Watersong - Wiegenlied: Band 2 (German Edition)
lange her, seit ihr euch das letzte Mal gesehen habt.«
Alex war ungefähr ein Jahr vor Nathalies Unfall ins Nachbarhaus gezogen. Bevor Gemmas Mutter verletzt worden war, hatte er Harper oft besucht, und er war sogar in der kurzen Zeitspanne bei ihnen gewesen, in der Nathalie nach dem Unfall zu Hause gelebt hatte.
Aber wenn man bedachte, dass Nathalie sich nicht einmal mehr an ihren eigenen Mann erinnerte, war es nicht überraschend, dass sie den Nachbarsjungen vergessen hatte.
» Hallo, Mrs Fisher.« Alex ging zu ihr und gab ihr die Hand. » Schön, Sie mal wiederzusehen.«
» Nenn mich einfach Nathalie.« Sie lächelte ihn an und legte ihrer Tochter den Arm um die Schultern. Als sie zum Haus gingen, flüsterte sie hörbar: » Der ist aber süß, Gemma!«
» Das ist er«, stimmte Gemma ihr zu, und mit einem verlegenen Lachen folgte Alex ihnen ins Haus.
Der Besuch verlief erstaunlich gut. Nathalie war sehr aufgedreht, aber guter Laune. Und sie freute sich offenbar wahnsinnig darüber, Gemma zu sehen, und umarmte sie immer wieder. Gelegentlich wurde sie ein bisschen aufdringlich Alex gegenüber, hängte sich bei ihm ein oder nahm seine Hand. Doch Alex blieb gelassen und entspannt, und wenn Gemma Nathalie daran erinnerte, dass Alex ihr Freund war, ließ ihre Mutter sofort wieder von ihm ab.
Nathalie versuchte sogar, Gemmas Haare zu flechten. Leider hatten ihre feinmotorischen Fähigkeiten durch den Unfall sehr gelitten, sodass das Ergebnis nicht sehr schön war. Außerdem war es ziemlich schmerzhaft, wie Nathalie an Gemmas Haaren riss, aber sie ertrug es mit einem Lächeln.
Als die beiden wieder gingen, war Gemmas Haar immer noch zu einem verknoteten » Zopf« geflochten.
» Wie schlimm sieht es aus?«, fragte Gemma auf dem Heimweg.
» Es ist eine wirklich… außergewöhnliche Frisur«, sagte Alex nach einem Seitenblick in ihre Richtung grinsend.
» Danke«, lachte Gemma und klappte den Spiegel herunter, um sich zu bewundern. » Ich finde es schön, dass sie es probiert hat. Sie hat seit meinem siebten Lebensjahr nicht mehr versucht, mich zu frisieren.«
» Und du kannst es tragen. Nicht viele Mädchen könnten mit einem Rattennest auf dem Kopf herumlaufen, aber an dir wirkt es chic.«
» Leider tut es höllisch weh.« Gemma klappte die Blende wieder hoch und versuchte, die verknoteten Strähnen zu entwirren. » Ich muss das Ding lösen, bevor ich Migräne kriege.«
» Musst du gleich nach Hause, wenn wir wieder in Capri sind?«, fragte Alex.
» Das hat zumindest mein Dad gesagt«, antwortete Gemma. » Aber eine genaue Uhrzeit hat er nicht erwähnt. Sollen wir vielleicht zu den Klippen fahren?«
Alex grinste. » Hört sich gut an.«
Vor ein paar Jahrzehnten hätten die Klippen sicher einen Spitznamen wie » Knutsch-Klippen« oder etwas ähnlich Albernes bekommen. Von hier aus hatte man einen wundervollen Blick auf die Anthemusa Bay und der Ort war recht abgeschieden und von Zypressen und Weihrauchkiefern umgeben.
Alex fuhr den Kiespfad entlang, der sich zwischen den Bäumen hindurchwand, und parkte so nah am Absturz wie möglich. Gemma, die es endlich geschafft hatte, den wirren Zopf zu lösen, den ihre Mutter ihr geflochten hatte, stieg aus und ließ sich das Haar vom Wind zerzausen.
» Es ist ein schöner Tag«, bemerkte Alex und stieg ebenfalls aus.
» Stimmt.« Gemma ging zum Rand der Klippe, setzte sich und ließ die Beine über dem Abgrund baumeln. » Komm.« Sie klopfte neben sich auf den Boden. » Setz dich zu mir.«
Alex setzte sich sehr viel vorsichtiger hin als Gemma und beobachtete wachsam die Wellen, die weit unten gegen die Klippe donnerten. Bevor er die Beine über den Rand schwang, zog er sich die Schuhe aus. Als er bequem saß, nahm er Gemmas Hand und hielt sie sanft.
Von diesem Aussichtspunkt aus sahen sie die gesamte Bucht. Ganz in der Nähe lagen die Docks, auf denen Gemmas Vater arbeitete. Weiter hinten reihten sich Privatboote in allen Größen aneinander, von der Riesenjacht bis zu Nussschalen, die noch kleiner waren als Daniels Boot.
Am städtischen Strand wimmelte es von Menschen. Es war ein wundervoller Sommertag, die Leute hatten frei und genossen das schöne Wetter. Überall, wo Platz war, flatterten rote, weiße und blaue Fahnen im Wind.
Wo der weiche Sand des Küstenstreifens allmählich in spitze Felsen überging, war es menschenleer. Die Felsen führten hinauf zu einem Zypressenwald, dem Wald, in dem Alex und Harper vor ein paar Wochen die Leichen gefunden
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