Watschenbaum: Roman einer Kindheit (German Edition)
gebotener Respektlosigkeit hinter die mehr oder weniger schönen bürgerlichen Fassaden geblickt. Vertrauen in Menschen, Nächstenliebe gar, für ihn ist das alles die reine »Humanitätsduselei«. Derartige Gefühle kotzen ihn nur an. Politiker sind ein rotes Tuch für ihn, wenn alle vier Jahre die Köpfe der wichtigsten rollen würden, so käme ihm das gerade recht.
Cornelius begleitet seine Stiefeltern auf einem der üblichen Sonntagsspaziergänge. Selbdritt flanieren sie gemessenen Schritts auf dem Dammweg rechts der Isar entlang der Einfriedung des Hellabrunner Tierparks, bis sie am Fuße des Harlachinger Hangs zur wunderlich frommen, aus Nagelfluhgestein und Birkenholz errichteten Quellklause des Wassermeisters Achleitner gelangen. Von dem Andachtsort geht es auf einem hölzernen Steg weiter über den seichten Fluss und anschließend über das kleine Kanalwehr zur aufgestauten Wasserfläche der Floßlände, wo sie eine Weile pausieren und das lärmende Treiben auf den ankommenden Flößen genießen; nach kurzweiligem Aufenthalt überschreiten sie den Schienenstrang der Isartalbahn und biegen vor dem ehemaligen Landsitz des Barockbaumeisters Asam in den Kirchweg ein, der sich an der Rückseite des Heims für gefallene Mädchen vorbei durch den unterhalb des Hochufers gelegenen dunkelgrünen Park an den Ausgangspunkt des Ausflugs zurückwindet: die malerische Wallfahrtskirche in der Mitte des ehemaligen Bauerndorfes Thalkirchen.
Kurz vor dem Pfarrhaus kommt ihnen ein unauffällig, aber sorgsam gekleideter Mann entgegen, der vor Ludwig den Hut zieht und ihn respektvoll, beinahe devot grüßt. Tante Carla, die sich sittsam bei ihrem Mann eingehängt hat, erkundigt sich nach der flüchtigen Begegnung bei Ludwig nach dem ihr unbekannten Gentleman, woraufhin ihr Gatte nur selbstgefällig auflacht und sie hämisch aufklärt:
Das war einer, den ich mal wegen Betrugs überführt und eingesperrt hab. Er hat damals geschworen, mir was anzutun, sobald er wieder aus dem Gefängnis heraus ist, aber anscheinend hat er sich’s lieber anders überlegt
. Cornelius ist keineswegs stolz darauf, dass Ludwig anderen Menschen mindestens ebenso viel Schrecken einflößt wie ihm.
Nicht selten äußert sich Ludwig abfällig über das flache Starwesen und entlarvt nüchternen Sinns die damit zusammenhängenden Mythen, denen ein begeisterungsfähiger Jugendlicher bereitwillig Glauben schenken will. Ausgerechnet an der Beatlemania, am Exempel des triumphalen Siegeszuges der vier Pilzköpfe aus Liverpool, will er die Lehren, die er angeblich aus der Zeit des nationalsozialistischen Massenwahns gezogen hat, veranschaulichen und in die üblichen verknöcherten Regeln und Verbote münden lassen, mit denen er Cornelius überreichlich bedenkt.
Wehret den Anfängen!
Obendrein hat er die Stirn, die Anzahl der Teilnehmer an der Kundgebung der Gewerkschaften auf dem Königsplatz abwertend mit den Massenaufmärschen
einst im Mai
zu vergleichen. Zu allem Überfluss ist dieser eitle Ausbund an selbstgerechter Unerschütterlichkeit, der immer einen festen Standpunkt zu vertreten hat, nicht nur ein kleinlicher Geizkragen, den ein bescheidenes, seinem Neffen zugemessenes Taschengeld zutiefst reuen würde, sondern auch noch ein billiger, grob gestrickter Atheist, ein ausgesprochen argwöhnischer Mensch, der einzig daran glauben will, dass sich aus einem Pfund Rindfleisch eine gute Suppe kochen lässt. Stolzgebläht kann er davon erzählen, wie der Heilstrom des seinerzeit bei den notdürftigen Massen gefragten Geistheilers Gröning wirkungslos an ihm abgeprallt sei und dem zerknirschten Magier nicht recht viel anderes übrig geblieben ist, als ihm gegenüber sein komplettes Versagen einzugestehen.
Bevor Ludwig an sich selbst zweifelt, friert eher die Hölle ein. Selbst seine Manieren lassen viel zu wünschen übrig: Erhält er ein Geschenk, das vielleicht sogar von Herzen kommt, hat er die unschöne Angewohnheit, es achtlos beiseite zu legen. Jemanden damit gekränkt zu haben, käme ihm freilich niemals in den Sinn. Seinem oberherrischen Verhalten hat sich die Umgebung unterzuordnen und seiner stupiden Meinung niemand zu widersprechen. Im Grunde ist es in Ludwigs sämtliche Bereiche des praktischen Lebens überragenden und beschattenden Gegenwart kaum auszuhalten, es sei denn, man würde die kompromisslose Flucht nach innen antreten und sich vorsichtshalber noch eine dicke Haut aus Elefantenleder zulegen.
Wohingegen Tante Carla die eherne Herrin der
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