Way Out
Vincent’s Hospital. Der Raum schien zur City zu gehören, war aber doch etwas von ihr separiert. Ein wenig von ihr isoliert. Eine Art Zufluchtsort.
»Machen Sie das noch mal«, bat Reacher.
»Was?«
»Dieses Brainstorming. Stellen Sie mir Fragen.«
»Okay, was haben wir bisher?«
»Wir haben eine unmögliche Entführung und einen Kerl, der nicht sprechen kann.«
»Und die Sache mit der Zunge hängt offenbar nicht mit Afrika zusammen.«
»Aber das Geld hängt mit Afrika zusammen, weil es genau die Hälfte ist.«
Stille im Raum. Kein Laut außer einer fernen Sirene.
»Beginnen Sie ganz von vorn«, forderte Pauling ihn auf. »Was war die allererste Unstimmigkeit? Das erste Alarmsignal? Irgendwas, auch wenn’s Ihnen trivial oder zufällig erscheint.«
Also schloss Reacher die Augen und erinnerte sich an den Anfang: die körnige Oberfläche des Styroporbechers mit dem Espresso in seiner Hand, strukturiert, temperaturneutral, weder kalt noch warm. Er erinnerte sich daran, wie Gregory auf das Café zugekommen war: hellwach, mit sparsamen Bewegungen. An seine Art, den Ober zu befragen: aufmerksam, konzentriert wie der ehemalige Elitesoldat, der er war. Und auch daran, wie er direkt an seinen Tisch gekommen war.
Reacher sagte: »Gregory hat mich nach dem Auto gefragt, das ich am Abend zuvor wegfahren gesehen hatte, und ich habe ihm erklärt, es sei gegen Viertel vor zwölf gewesen, und er hat gesagt, nein, das müsse näher an Mitternacht gewesen sein.«
»Eine Debatte wegen des Zeitpunkts?«
»Nicht gerade eine Debatte. Nur eine Kleinigkeit, wie Sie gesagt haben.«
»Was würde das bedeuten?«
»Dass einer von uns beiden unrecht hatte.«
Pauling sagte: »Sie tragen keine Uhr.«
»Ich hatte mal eine. Sie ist kaputtgegangen. Da habe ich sie weggeworfen.«
»Also ist eher zu erwarten, dass er recht hatte.«
»Ich weiß meist ziemlich genau, wie spät es ist.«
»Machen Sie die Augen zu, okay?«
»Okay.«
»Wie spät ist’s jetzt?«
»Einundzwanzig Uhr sechsunddreißig.«
»Nicht schlecht«, meinte Pauling. »Auf meiner Armbanduhr ist es einundzwanzig Uhr achtunddreißig.«
»Ihre Uhr geht vor.«
»Ist das Ihr Ernst?«
Reacher öffnete die Augen. »Absolut.«
Pauling wühlte auf ihrem Couchtisch herum und fand die Fernbedienung des Fernsehers. Schaltete den Wetterkanal ein. Die auf die Hundertstelsekunde genaue amtliche Zeit, die von irgendeiner Wetterdienststelle übermittelt wurde, war in einer Ecke des Bildschirms eingeblendet. Pauling sah nochmals auf ihre Uhr.
»Sie haben recht«, sagte sie. »Meine geht zwei Minuten vor.«
Reacher sagte nichts.
»Wie machen Sie das?«
»Weiß ich nicht.«
»Aber als Gregory Sie danach gefragt hat, lag Ihre Beobachtung vierundzwanzig Stunden zurück. Wie genau konnte Ihre Erinnerung sein?«
»Schwer zu sagen.«
»Was würde es bedeuten, wenn Gregory unrecht und Sie recht hätten?«
»Irgendetwas«, antwortete Reacher. »Aber ich weiß nicht genau, was.«
»Was war das Nächste?«
Im Augenblick vermutlich eher um Tod als um Leben , hatte Gregory gesagt. Das war das Nächste gewesen. Reachers Blick war noch einmal in seinen Becher gewandert, auf dessen Boden sich weniger als drei Millimeter einer lauwarmen Kaffeesatzbrühe befanden. Er hatte ihn abgestellt und gesagt: Okay, gehen wir also.
Er sagte: »Irgendwas beim Einsteigen in Gregorys Wagen. In den blauen BMW. Irgendwas ist mir aufgefallen. Nicht sofort, aber später. Nachträglich.«
»Aber Sie wissen nicht mehr, was?«
»Nein.«
»Und dann?«
»Dann sind wir im Dakota angekommen, und die Sache wurde ernst.« Das Porträtfoto, dachte Reacher . Danach hat sich alles um das Foto gedreht.
Pauling sagte: »Wir sollten eine Pause machen. So etwas lässt sich nicht erzwingen.«
»Haben Sie Bier im Kühlschrank?«
»Nein, aber Weißwein. Möchten Sie welchen?«
»Ich bin egoistisch. Sie haben vor fünf Jahren nicht versagt. Sie haben alles richtig gemacht. Wir sollten uns ein paar Minuten Zeit gönnen, das zu feiern.«
Pauling schwieg einen Augenblick. Dann lächelte sie.
»Ja, das sollten wir«, erklärte sie. »Weil es ehrlich gesagt ein klasse Gefühl ist.«
Sie gingen zusammen in die Küche. Pauling holte die Flasche aus dem Kühlschrank, und er öffnete sie mit dem Korkenzieher aus einer Schublade. Sie nahm zwei Gläser aus einem Hängeschrank und stellte sie auf die Arbeitsfläche. Er schenkte ein. Jeder nahm sich eines, und sie stießen an.
»Gut zu leben, ist die beste Rache«,
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