Waylander der Graue
schüttere graue Haar. »Ich weiß, dass er gegen die Männer gekämpft und sie getötet hat, die dein Dorf angegriffen haben, und dass sie dich gefangen und … übel behandelt haben. Aber dies ist ein gutes Haus, Keeva. Hier bist du in Sicherheit.«
»Woher weißt du, was alles passiert ist?«, fragte sie.
»Einer unserer Gäste ist eine Priesterin aus Kiatze. Sie kann über weite Entfernungen sehen.«
»Übt sie Magie aus?«
»Ich weiß nicht, ob es Magie ist. Sie benutzt keine Zaubersprüche. Sie schließt einfach nur die Augen. Aber ich muss zugeben, es geht über meinen Verstand. Und jetzt ruh dich aus.«
Keeva hörte seine Schritte im Korridor widerhallen. Sicher war sie vielleicht, aber sie war fest entschlossen, nicht einen Augenblick länger als nötig an diesem schrecklichen Ort zu bleiben. Keeva hatte noch nie Angst vor der Dunkelheit gehabt, doch hier, in diesem unterirdischen Raum, starrte sie die kleine Kerze an, jämmerlich dankbar für das flackernde Licht.
Müde von dem langen Ritt, zog sie ihren Umhang aus und hängte ihn über eine Stuhllehne, dann schlüpfte sie aus ihrem Kleid. Das Bett war bequem, die Matratze fest, die Decken sauber, das Kissen weich und nachgiebig. Keeva schloss die Augen und glitt in einen Schlaf voller Träume. Sie sah wieder den Grauen Mann aus dem Wald reiten, um die Räuber zu stellen, doch dieses Mal war sein Gesicht, als er zu ihrer Rettung kam, ohne jede Farbe. Er nahm sie am Arm und führte sie zu einem großen Loch in der Erde und zerrte sie hinein. Sie schrie auf und erwachte mit pochendem Herzen. Die Kerze war ausgegangen, sodass das Zimmer in völliger Finsternis lag. Keeva rollte sich aus dem Bett, tastete nach dem Türriegel und zerrte ihn zurück. Im Korridor brannte in einiger Entfernung noch immer eine Laterne. Sie nahm die zweite Kerze von ihrem Nachttischchen, rannte zu der Laterne und entzündete ihre Kerze an der Flamme. Dann ging sie in ihr Zimmer zurück, setzte sich hin und tadelte sich selbst wegen ihrer Angst.
»Im Leben«, hatte ihr Onkel erklärt, »gibt es zwei Arten von Menschen: Die, die vor ihren Ängsten davonrennen, und die, die sie überwinden. Die Angst ist wie ein Feigling. Wenn du vor ihr zurückweichst, wird sie zu einem beängstigenden Schinder, der dich zu Boden schickt. Aber wenn du dich ihr stellst, schrumpft sie zu einem winzigen, ekligen Insekt.«
Sie stählte sich, blies die Kerze aus, legte sich nieder und zog die Decke wieder hoch. Ich lasse mich nicht von nächtlichen Schrecken plagen, entschied sie. Ich gerate nicht in Panik, Onkel.
Dieses Mal schlief sie friedlicher, und als sie erwachte, drang ganz schwach Licht ins Zimmer. Sie setzte sich auf und sah, dass das Licht durch einen Spalt in den schweren Vorhängen der gegenüberliegenden Wand fiel. Keeva stand auf und zog die Vorhänge beiseite. Sonnenschein strömte herein, und sie blickte über die leuchtend blaue Bucht von Carlis hinaus, wo die Morgensonne auf den Wellen glitzerte. Kleine Fischerboote sprenkelten die Bucht, ihre weißen Segel strahlten in der Sonne. Über ihnen kreisten Möwen. Erstaunt öffnete Keeva die holzgerahmten Glastüren und trat hinaus auf einen geschwungenen Balkon. Ringsumher gab es auf verschiedenen Ebenen ähnliche Balkone, die meisten größer, manche kleiner, aber alle mit Blick über die schöne Bucht.
Sie war überhaupt nicht unter der Erde. Der weiße Palast des Grauen Mannes war an einen steilen Abhang gebaut, und sie war oben hereingekommen, ohne seine wahre Schönheit sehen zu können.
Keeva warf einen Blick nach unten. Unter ihrem Balkon sah sie terrassenförmig angelegte Gärten mit Pfaden und Treppen, die zum Strand hinunterführten, wo sich eine hölzerne Rampe ins Meer zog. Ein Dutzend Segelboote lag dort vertäut, mit zusammengerollten Segeln. Sie sah, dass der Palast selbst zwei Türme besaß, einen im Norden und einen im Süden, gewaltige Gebäude, die je eine eigene Terrasse besaßen.
Überall waren bereits Gärtner am Werk an den zahlreichen Blumenbeeten. Einige schnitten verblühte Pflanzen, andere harkten Blätter von den Wegen und warfen sie in Säcke, die über ihren Schultern hingen. Wieder andere setzten frische Pflanzen oder beschnitten die zahlreichen Rosenbüsche.
Keeva war so bezaubert von der Schönheit dieses Anblicks, dass sie das sanfte Klopfen an ihrer Tür und das Knirschen des Riegels beim Offnen überhörte.
»Du solltest vielleicht besser hereinkommen und dich anziehen«, sagte eine Stimme.
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