Waylander der Graue
langsam über einen Sandweg durch dichten Wald geritten, bis sie auf freies Gelände und ein Stück gepflegten Rasen trafen, das von einer breiten, steinernen Straße durchschnitten wurde. Es gab weder Brunnen noch Statuen. Zwei speertragende Wachposten patrouillierten vor einem lang gestreckten, flachen einstöckigen Gebäude, das knapp siebzig Meter lang war. Man sah nur wenige Fenster, und auch diese waren dunkel. Das einzige Licht, das Keeva sehen konnte, kam von vier großen Messinglaternen, die in der großen, von Marmorsäulen getragenen Eingangshalle standen. Es sieht aus wie ein Mausoleum, dachte Keeva, als der Graue Mann weiterritt.
Die schwarzen Türen öffneten sich, und zwei junge Männer liefen herbei, um sie zu begrüßen. Beide trugen graue Livree. Müde stieg Keeva ab. Die Diener führten die Pferde fort, und der Graue Mann winkte ihr, ihm hineinzufolgen. Ein älterer Mann wartete auf sie, eine hoch gewachsene, leicht gebückte Gestalt mit weißem Haar und langem Gesicht. Auch er trug Grau, eine knöchellange Tunika aus feiner Wolle. Auf der Schulter war in schwarzer Seide eine schöne Stickerei, die einen Baum zeigte. Er verbeugte sich vor dem Grauen Mann.
»Du siehst müde aus, Herr«, sagte er. Seine Stimme war tief und leise. »Ich lasse dir ein heißes Bad bereiten.«
»Danke, Omri. Diese junge Frau wird hier arbeiten. Lass ein Zimmer für sie bereitmachen.«
»Selbstverständlich, Herr.«
Ohne ein Abschiedswort schritt der Graue Mann durch die marmorgeflieste Halle davon. Er hatte nur wenig gesprochen, seit sie die Ruinen verlassen hatten, und Keeva fragte sich, ob sie etwas gesagt oder getan hatte, um ihn zu verärgern. Sie war verwirrt und unsicher. Sie betrachtete die samtenen Wandbehänge, die schönen Teppiche und die Gemälde, die die Wände zierten.
»Folge mir, Mädchen«, sagte Omri.
»Ich habe einen Namen«, sagte sie mit einem verärgerten Unterton.
Omri blieb stehen, dann drehte er sich langsam um. Sie erwartete eine zornige Erwiderung, doch er lächelte nur. »Ich bitte um Verzeihung, junge Frau. Natürlich hast du einen Namen. Dann wollen wir auch kein Geheimnis daraus machen. Bitte, lass mich ihn wissen.«
»Ich heiße Keeva.«
»Nun, das ließ sich einfach regeln, Keeva. Wirst du mir also jetzt folgen?«
»Ja.«
»Gut.« Er ging durch die Halle und wandte sich nach rechts in einen breiten Korridor, der zu einer Treppe führte, die nach unten in die Schatten verlief. Keeva blieb an der obersten Stufe stehen. Sie hatte überhaupt keine Lust, die Nacht in diesem hässlichen, flachen Gebäude zu verbringen. Aber unter der Erde? Was für ein Mann war das, der seinen Reichtum dafür verwandte, sich ein Haus unter der Erde zu buddeln?, fragte sie sich.
Der Diener Omri war ihr ein Stück voraus, und Keeva ging rasch die teppichbelegten Stufen hinunter. Das ganze Gebäude wirkte dunkel und trüb. Nur gelegentlich warfen Laternen düstere Schatten auf die Wände. Nach wenigen Minuten fühlte sich Keeva hoffnungslos in diesem düsteren Labyrinth verloren.
»Wie kannst du nur hier leben?«, fragte sie Omri. Ihre Stimme klang in dem langen, öden Korridor hallend. »Das ist doch schrecklich hier.«
Er lachte mit echter Belustigung. Es hörte sich gut an, und sie merkte, dass er ihr sympathisch wurde. »Es ist ganz erstaunlich, an was man sich gewöhnen kann«, sagte er.
Sie kamen an mehreren Türen vorbei, ehe Omri eine Laterne von der Wand nahm und vor einer schmalen Tür stehen blieb. Er schob den Riegel zurück und trat ein. Keeva folgte ihm. Omri ging zu dem ovalen Tisch, der in der Zimmermitte stand, und nahm eine Kerze herunter. Er hielt den Docht an die Laternenflamme, dann steckte er die Kerze weder in den bronzenen Halter, der wie eine geöffnete Blüte geformt war. Keeva sah sich um. An der Wand stand ein Bett, ein schlichtes Stück, ohne Verzierung, aus Pinienholz. Daneben stand ein Schränkchen, auf dem eine weitere Kerze in einem Bronzehalter stand. Schwere Vorhänge verbargen die gegenüberliegende Wand.
»Ruh dich ein bisschen aus«, schlug Omri vor. »Ich schicke dir morgen früh – sehr früh - jemanden, der dir deine Pflichten erklärt.«
»Was tust du denn hier?«, fragte sie ihn. Ihre Worte überstürzten sich in ihrer Angst, allein gelassen zu werden.
»Ich bin Omri, der Haushofmeister. Geht es dir gut? Du zitterst ja.«
Mit großer Mühe gelang Keeva ein Lächeln. »Es geht mir gut. Ehrlich.«
Omri fuhr sich mit den dünnen Händen durch das
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