Waylander der Graue
QUELLE.
Einst, vor zwei Jahrzehnten, als er noch voller Jugend und Feuer war, hatte er den Pfad der Priesterschaft gewählt. Oh, damals hatte er geglaubt. Sein Glaube war stark gewesen durch Krieg und Krankheit hindurch, durch Armut und Hunger. Und als seine Mutter krank geworden war, war er nach Hause gereist in dem Wissen, dass die QUELLE sie durch seine Gebete heilen würde. Er war auf dem Familienbesitz angekommen, an ihr Bett gestürzt und hatte die QUELLE angerufen, sie möge seinen Diener segnen und seine Mutter mit ihrer heilenden Hand berühren. Dann hatte er ein Festmahl für den Abend vorbereiten lassen, wenn sie alle für das kommende Wunder danken würden.
Seine Mutter war kurz vor Einbruch der Dunkelheit gestorben, unter schrecklichen Schmerzen und Blut hustend. Chardyn hatte bei ihr gesessen und in ihr totes Gesicht gestarrt. Dann ging er nach unten, wo die Diener das gute Silberbesteck auf die Festtafel legten. In einem plötzlichen Wutanfall hatte Chardyn die Tische umgeworfen und Teller und Geschirr zertrümmert. Die Diener waren vor seinem Zorn geflohen.
Er war in die Nacht hinausgelaufen und hatte seine Wut zu den Sternen emporgeschrien.
Chardyn war zum Begräbnis geblieben und hatte sogar das Gebet der Seelenreise gesprochen, als seine Mutter neben ihrem Ehemann und den beiden Kindern bestattet wurde, die jung gestorben waren. Dann war er zu dem Nicolanischen Kloster gereist, wo sein alter Lehrer Parali Abt war. Der alte Mann hatte ihn mit einer Umarmung und einem Kuss auf die Wange begrüßt.
»Ich teile deinen Kummer, mein Junge«, sagte er.
»Ich habe die QUELLE angerufen, aber sie hat mir nicht geantwortet.«
»Manchmal tut sie das nicht. Oder wenn, dann auf eine Art und Weise, die uns nicht gefällt. Aber schließlich sind wir ihre Diener, nicht sie der unsere.«
»Ich glaube nicht mehr an sie«, gestand Chardyn.
»Du hast schon früher Todesfälle erlebt«, erinnerte Parali ihn. »Du hast Babys sterben stehen. Du hast Kinder und ihre Eltern begraben. Wie kommt es, dass dein Glaube in solchen schweren Zeiten stark blieb?«
»Sie war meine Mutter. Sie hätte sie retten können.«
»Wir werden geboren, wir leben eine kurze Zeit, und wir sterben«, sagte Parali. »Das ist der Lauf der Dinge. Ich kannte deine Mutter gut. Sie war eine gute Frau, und ich glaube, dass sie jetzt im Paradies ist. Sei dankbar für ihr Leben und ihre Liebe.«
»Dankbar?«, wütete Chardyn. »Ich habe ein Festmahl organisiert, als Dank an die QUELLE für ihre Genesung. Ich habe ausgesehen wie ein Idiot. Ich werde jedenfalls kein Idiot mehr sein. Wenn die QUELLE existiert, dann verfluche ich sie und will nichts mehr mit ihr zu tun haben.«
»Du willst die Priesterschaft verlassen?«
»Ja.«
»Dann bete ich für dich, dass du Frieden und Freude finden mögest.«
Chardyn hatte ein Jahr auf einem Bauernhof gearbeitet. Es war eine knochenharte Schufterei für geringen Lohn, und er begann, die kleinen Genüsse zu vermissen, die er als Priester für selbstverständlich genommen hatte: die Annehmlichkeit des Lebens im Tempel, Essen und Trinken im Überfluss, die Zeiten stiller Meditation.
Eines Nachts, nachdem er den Tag damit verbracht hatte, Stroh für das Winterfutter zu schneiden und zu binden, saß Chardyn mit den anderen Erntehelfern um das Feuer und hörte ihren Gesprächen zu. Es waren einfache Leute, und bevor sie das gebratene Fleisch aßen, dankten sie der QUELLE für die reiche Ernte. Im vergangenen Jahr, nach einer Missernte, hatten sie der QUELLE für ihr Leben gedankt. In diesem Augenblick erkannte Chardyn, dass Religion das war, was Betrüger eine immer wahre Behauptung nannten. »In Zeiten des Überflusses danke der QUELLE, in Zeiten des Hungers danke der QUELLE.« Wenn jemand eine Krankheit überstand, lag es an der göttlichen Einmischung. Wenn jemand an der Krankheit starb, war er in die Herrlichkeit gegangen. Gelobt sei die QUELLE, so schien es – ungeachtet ihrer offensichtlichen kosmischen Dummheit. Und das brachte Glück und Zufriedenheit. Warum also sollte Chardyn auf einem Hof schuften, wenn er das Glück und die Zufriedenheit der Welt mehren konnte, indem er den Glauben predigte? Es würde gewiss sein eigenes Glück und seine eigene Zufriedenheit gewaltig mehren, wenn er wieder in einem schönen Haus lebte, umsorgt von geschickten Dienern.
Also hatte er das blaue Gewand wieder angelegt und war durch Kydor gereist, um eine Stelle in dem kleinen Tempel inmitten der Stadt Carlis
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