Weber David - Schwerter des Zorns - 2
dass man den
Verlauf der Straße ohne die Hilfe von Dächern, die sie säumten,
kaum erkennen konnte. Zwei Tagesetappen von Lordenfel entfernt
ersetzten die Kutscher die Reifen durch die Kufen. So kamen sie auf
der schneebedeckten Straße schneller voran, und wenn sie gelegent
lich auf eine freigeräumte Strecke Steinpflaster trafen, lenkten die
Kutscher ihre Wagen einfach auf die verschneite Grasnabe und fuh
ren weiter.
Bahzell und Brandark stammten aus dem Norden: ihnen war eine
verschneite Landschaft nicht fremd. Allerdings hatte der in der
Stadt aufgewachsene Brandark weniger Erfahrung mit QuerfeldeinReisen im Winter. Doch nicht einmal Bahzell hatte jemals eine so
weite, verlassene Einöde in einem Land erlebt, das angeblich besie
delt war. Auf eine merkwürdige Art und Weise betonte die Hohe
Straße diese Einsamkeit noch. Ihr gerader Verlauf, der von den
Baumreihen angezeigt wurde, die als Windschutz gepflanzt worden
waren, die seltenen schneefreien Abschnitte des Steinpflasters, die
wie Wale im Schnee auftauchten, als kämen sie zum Atmen an die
Oberfläche, sowie die steinernen Brücken, die plötzlich über Flüsse
führten, die sich im Winter in Eisfelder verwandelt hatten, und vor
allem die Dörfer und Siedlungen, deren Einwohner mit Kind und
Kegel verschwunden waren … all das erinnerte an Relikte einer aus
gestorbenen Kultur. Die Bewohner waren vor den erbarmungslosen
Armeen des Winters geflüchtet, und nichts gab der Hoffnung Nah
rung, es könnte ihnen im Frühling gelingen, diese Armeen zurück
zuschlagen. Die Luft war so kalt, dass sie auf der Haut schmerzte,
und wenn sie morgens in ihren wohlig warmen, mit Daunen gefüt
terten Vonderland-Schlafsäcken aufwachten, war deren Außenseite
von Frost überzogen. Die unerbittliche Macht des Winters besaß hier
etwas beinahe Vernunftbegabtes, und das Knirschen des Neu
schnees unter Bahzells Stiefeln und das Knarren der Koppel und
Klirren der Rüstungen, das Stampfen der Hufe und die gelegentli
chen Fetzen einer Unterhaltung wirkten in dieser riesigen Stille win
zig und verloren.
»Ich habe mir eine solche … Leere niemals vorstellen können, Mil
ord«, sagte Vaijon eines Morgens. Er hatte seinen vornehmen Um
hang längst gegen einen warmen Sothôii-Poncho eingetauscht, wie
ihn die anderen trugen, und schlug die Hände in den dicken Hand
schuhen aneinander, um sie zu wärmen, während er über die weiße,
einsame Landschaft hinausschaute. »Ich kann mir nicht einmal vor
stellen, dass hier im Sommer jemand wohnt!«
»Dabei kommt Ihr aus Fradonia«, meinte Kaeritha spöttisch. Der
junge Ritter schenkte ihr ein Lächeln, das der alte Vaijon einer ehe
maligen Bauerstochter, deren Mutter eine Hure gewesen war, nie
mals gewährt hätte, sei sie nun Paladin oder nicht. Sie schüttelte den
Kopf. »Sagtet Ihr nicht, dass Eure Familie auch Besitzungen in Von
derland unterhält?«
»Das tun wir allerdings, Milady. Aber die Dörfler in Vonderland
neigen dazu, zu bleiben, wo sie sind. Jedenfalls ziehen sie nicht weg,
nur weil es ein bisschen schneit.«
»Schon, aber ihre Bewohner neigen auch dazu, als Förster, Bauern,
Waldläufer und Fischer zu arbeiten, nicht als Schäfer«, antwortete
Kaeritha, »und außerdem ist die Bevölkerungsdichte in Landria und
Landfressa ohnehin weit geringer. Mehr als die Hälfte der Men
schen, die hier leben, sind Schäfer oder Viehzüchter, deren Herden
unter diesen Bedingungen einfach nicht überwintern können. Das
bedeutet, sie müssen weiterziehen. Und sie wollen ihre Familien
nicht zurücklassen, wenn sie ihre Herden nach Süden treiben. Ihr
würdet Euch wundern, wie viele Menschen jetzt liebend gern ins
nordöstliche Rustum und in die Nordmarschen abwandern würden,
wenn man gleichzeitig an zwei Orten leben könnte. Nur ist die
Mehrheit von ihnen gar nicht dort hingegangen.«
»Wie bitte?« Vaijon sah sie verwirrt an. »Sagtet Ihr nicht gerade,
sie wären Schäfer und würden mit den Familien ihren Herden fol
gen?«
»Nein. Ich sagte, sie wären Schäfer, die ihren Herden folgen und
ihre Familien nicht zurücklassen wollten, wenn sie schon nicht bei
ihnen sein können. Deshalb ist es hier oben seit, ach, seit wenigstens
vier oder fünf Jahrhunderten Sitte – seit das Stollenherz in Zwergen
heim gegraben wurde –, dass diese Familien bei den Zwergen über
wintern. Sie bezahlen das mit Fleisch, Hammelfleisch und Wildbret,
und sie gewährleisten auch einen jährlichen Zuwachs an Arbeitern
für die Manufakturen der Zwerge. Das
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