Weg da das ist mein Fettnapfchen
man fest, dass er nur das linke Auge auf einen richten kann, während das andere wie eine Murmel in einem leeren Mayoglas herumkugelt. Deshalb ist es mir völlig egal, ob er die zwei Dollar nimmt, die ich ihm gerade gegeben habe, und sie für ein Glas vom billigsten Wodka westlich von Russland ausgibt. Müsste ich mit einer Murmel in der Augenhöhle herumlaufen, würde ich mir jeden Tag einen genehmigen wollen, und wenn eine dämliche Frau in einem Prius mir ihr Wechselgeld in den Hut werfen und »Da, aber bitte nicht für Alkohol ausgeben!« sagen würde, dann würde sich mein kaputtes Auge einmal komplett im Kreis drehen, das kann ich Ihnen versichern.
Wüsste meine Mutter davon, würde sie höchstwahrscheinlich maulen, dass ich meine Lektion wohl auf die harte Tour lernen müsste, wenn mir der Penner nämlich erst einmal folgte und sämtliche Wertgegenstände aus dem Haus klaute. Aber da uns mittlerweile ja mehrere Bundesstaaten voneinander trennen und sie bislang keine Anstalten gemacht hat, mich hier zu besuchen, kann ich ganz beruhigt sein. Ihre mangelnde Reiselust hat jedoch keinen Einfluss auf ihr Bedürfnis, weiterhin den Teufel an die Wand zu malen. Und das tat sie auch, als sie eine Mail bekam und eine hier nicht näher genannte Person, die eine s Tages schon noch die Rechnung dafür präsentiert bekommen wird, dass sie auf eine Sexualkundefrage ihres fünfjährigen Sohnes nicht vorbereitet war, ihr zeigte, wo sich im Mailprogramm die »Senden«-Taste befindet.
Seit der Erfindung der Buchstabenkombination » FWD « für »Weiterleiten« hat meine Mutter ihre Aufgabe zu neuen Höhen getrieben. Sämtliche verborgenen Gefahren auf der Welt, ob groß oder klein, werden aufgedeckt, damit sie einen nicht zu einem Zeitpunkt, da man nicht damit rechnet, plötzlich in Gestalt eines Handyladegeräts oder dergleichen heimsuchen und sich als die Instrumente des Todes entpuppen konnten, die sie in Wahrheit sind.
Oder, wie in diesem Fall, in Gestalt von Menschen namens Karen.
Als meine Schwester also anrief, um mich eindringlich vor den Gefahren, die von Menschen namens Karen ausgehen, zu warnen, lag es auf der Hand, dass meine Mutter wieder mal die Finger im Spiel hatte.
Wenig später checkte ich meine Mails und entdeckte sie tatsächlich. FWD: FWD: FWD: FWD: FWD: BITTE DRINGEND LESEN , was in Mail-Codesprache nichts a nderes bedeutet als »Festgelegtes Weltuntergangsdatu m«, und je häufiger das Kürzel im Betreff wiederholt wird, umso größer ist die Gefahr, dass die Welt schon bald der endgültigen Zerstörung anheimfallen wird.
Obwohl meine Mutter uns Kinder nie über die wirklich wichtigen Dinge im Leben aufgeklärt hat, nach dem Motto: »Also, es gibt da die Eizelle und das Sperma«, oder »Seht zu, dass ihr immer genug Milch trinkt, damit eure Knochen schön kräftig und gesund bleiben«, oder »Brüste oder Kinder: Entscheidet euch für eines von beidem, denn beides geht nicht«, oder aber »Zu dumm, dass du zum Arzt gegangen bist, um herauszufinden, ob du zum Albino wirst, denn über kurz oder lang werden wir alle grau, ganz besonders in den Körperregionen, die der Friseur nur gegen Aufpreis färbt«, ist sie nie auch nur einen Zentimeter von ihrer Berufung abgewichen, sich liebevoll um unser Wohlergehen zu kümmern.
Stattdessen las ich folgende eindringliche Warnung, als ich die Mail nun öffnete: »Letzte Woche bekamen wir einen Anruf. Die Nummer hatte die Vorwahl 809. Die Frau hinterließ eine Nachricht auf Band. ›Hi, hier spricht Karen. Wie schade, dass ich euch nicht erreiche – ruft doch bitte zurück. Ich muss euch etwas Wichtiges sagen.‹ Dann wiederholte sie die Nummer. Wir haben nicht darauf reagiert.«
Nur fürs Protokoll – meine Mutter hat niemals einen Anruf von einer gewissen Karen erhalten, ebenso wenig wie sonst jemand aus ihrem Umfeld. Vielmehr hat derjenige, d en diese Karen irgendwann Mitte der Neunziger ursp rünglich angerufen hat, diese Weltzerstörungsmail verfasst und in die endlosen Weiten der virtuellen Welt hinausgesandt. Woraufhin sie eine Reise durch diverse Wurmlöcher von der Länge des Oregon Trail mit einem kurzen Abstecher in die Stringtheorie antrat, ehe das Schicksal sie zu meiner Mutter führte, die sie beängstigend genug fand, um sie noch weiter zu verbreiten, nachdem sie gleich zu Beginn auf die alles entscheidenden Worte ACHTUNG und UNBEDINGT in der Betreffzeile gestoßen war.
Sollte irgendjemand auf die Idee kommen, Karen aus reiner Neugier
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