Weg da das ist mein Fettnapfchen
Hände durch das Loch schieben und durch Winken auf uns aufmerksam machen, während uns ein Entführer dort als Geisel hält, weil er vorhat, aus unserem Schädel seine Suppe zu löffeln. Aber diese Geschichten, die du mir ständig schickst, sind einfach nicht wahr.«
»Was soll das heißen? Natürlich sind sie wahr«, widersprach meine Mutter. »Sonst würden die Leute sie ja wohl kaum an andere weiterschicken.«
»Mom, erinnerst du dich noch, als ich in den Zwanzigern war und du vier bis sechs oder gar sieben Jahre lang sauer auf mich warst, weil ich keinen Job hatte?«, fragte ich.
»Oh«, meinte meine Mutter lachend, »willst du damit etwa andeuten, du hättest heute einen?«
»Na ja«, fuhr ich fort, ohne auf die Spitze einzugehen, »damals habe ich meine Tage damit verbracht, Kurse an der Journalistenschule zu besuchen. Und eines der wichtigsten Dinge, die ich dort gelernt habe, war, Fakten zu recherchieren. Und du kannst dasselbe tun. Ich habe dir ein paar Mails mit einem Link zu einer Seite zurückgeschickt, auf der du überprüfen kannst, ob eine Mailgeschichte wahr ist oder nicht.«
Einen Moment lang herrschte Stille in der Leitung.
»Die Mails, die ich dir mit dem Link zu www.snopes.com geschickt habe«, sagte ich schließlich. »Hast du sie bekommen?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete sie. »Kann sein.«
»Wieso weißt du nicht, ob du sie bekommen hast oder nicht?«, hakte ich argwöhnisch nach.
»Kann sein, dass ich einige davon gelöscht habe«, gab sie zu.
»Einige davon?«
»Na ja, ehrlich gesagt, die meisten«, räumte sie ein. »Oder, besser gesagt, alle. Wenn dein Name im Postfach erscheint, drücke ich immer sofort auf ›Löschen‹.«
»Du machst meine Mails noch nicht einmal auf?«, fragte ich leicht verdattert.
»Meistens schreibst du sowieso nur Unsinn«, informierte sie mich.
»Oh«, sagte ich und nickte. »Unsinn, ja? Du findest also, das ist alles Unsinn? Natürlich ist es hochwissenschaftlich, die *77 als Notruf zu wählen. Aber soll ich dir mal etwas verraten? Die *77 zu wählen hilft dir nur in einer Handvoll Bundesstaaten weiter. Für die 911 dagegen musst du nicht nur genau gleich viele Tasten drücken, sie funktioniert auch noch im ganzen Land!«
»Die würden diese Mails doch nicht herumschicken, wenn sie nicht wahr wären«, beharrte sie. »Wenn ich von einem Zivilfahrzeug mit einem Serienkiller am Steuer angehalten werde, rufe ich die *77.«
»Okay, dann nimm eben die *77. Mach nur. Und wenn du überfallen wirst und der Räuber dich zwingt, zum Geldautomaten zu gehen, dann versuch mal, deinen Geburtstag rückwärts einzugeben. Aber mach dir keine Sorgen, du hast massenhaft Zeit. Die Polizei kommt nämlich eh nicht, weil es gar kein Paniksignal gibt. Es existiert nicht. Das ist ein reiner Mythos. Und die Geschichte wurde auf Fox News gesendet, was sie erst recht zu einer Lüge macht. Und rate mal, was ich jetzt tun werde? Ich werde jetzt zum nächsten Wal-Mart fahren und jeden fragen, den ich dort sehe, ob er mir ein billiges Parfum verkaufen will, aber nur wenn ich es vorher ausprobieren darf! Ich will, dass er mir mitten ins Gesicht spritzt! Mitten ins Gesicht!«
»Nein«, rief meine Mutter. »Da ist Äther drin, Laurie! Das steht so in der E-Mail! Das ist kein Parfum!«
»Und ich flechte mir einen Zopf«, fuhr ich fort.
»Los, dann mach doch. Benimm dich ruhig wie eine Idiotin«, schoss meine Mutter zurück. »Da kannst du dir auch gleich Griffe an den Kopf montieren. Versuch mal, einen Krug ohne Griff zu fassen zu kriegen! Das ist schier unmöglich!«
»Ich muss jetzt Schluss machen, Mom!«, rief ich. »Da schreit ein Baby auf meiner Veranda, und ich habe Angst, dass es gleich überfahren wird. Bye, bye. Und wenn du mich um Hilfe rufen hörst, dann wähl einfach die Sternchentaste und L-Ü-G-E !«
Nach diesem Telefonat dauerte es einige Zeit, bis ich wieder von meiner Mutter hörte. Was wahrscheinlich besser so war, weil ich mich nämlich immer noch weigerte, vor halb neun Uhr morgens ausschließlich mit Schirm aus dem Haus zu gehen. Aber dann kam der Tag, an dem eine Mail eintrudelte, die zu beängstigend war, um sie zu ignorieren, zu schockierend, um sie zu leugnen. Meine Mutter tat, was jede gute Mutter tut – sie versuchte, dafür zu sorgen, dass ich am Leben blieb.
» FWD: FWD: FWD: Sehr wichtig!«
Und da, in roter Helvetica 70 Punkt, stand:
»Vor ein paar Tagen wollte ein junger Mann sein Handy zu Hause aufladen. In diesem Moment ging ein Anruf
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