Weg der Träume
ihn.
»Sie fragen sich, warum ich mit Ihnen sprechen will?«
»Das würde mich interessieren, ja.«
Sarah schaute auf die Mappe vor sich und dann wieder hoch.
»Als Erstes möchte ich Ihnen sagen, wie gern ich Jonah in der Klasse habe. Er ist ein wunderbarer Junge - er meldet sich immer als Erster, wenn ich etwas brauche, und er versteht sich großartig mit den anderen Schülern. Er ist höflich und drückt sich für sein Alter sehr gut aus.«
Miles sah sie argwöhnisch an.
»Warum habe ich nur den Verdacht, dass die schlechte Nachricht noch kommt?«
»Bin ich so leicht zu durchschauen?«
»Irgendwie schon«, gab Miles zu, und Sarah lachte verlegen.
»Tut mir Leid, aber ich wollte Ihnen zu verstehen geben, dass es nicht ganz so schlimm ist. Hat Jonah denn erwähnt, worum es geht?«
»Erst heute beim Frühstück. Als ich ihn gefragt habe, warum Sie mich sehen wollen, hat er von Schwierigkeiten bei manchen Aufgaben geredet.«
»Aha.«
Sarah schwieg, als müsse sie sich sammeln.
»Sie machen mich ein bisschen nervös«, gab Miles schließlich zu. »Hat er etwa ernsthafte Probleme?«
»Nun ja…«
Sie zögerte. »Ich sage das sehr ungern, aber ich glaube schon. Jonah hat nicht Schwierigkeiten bei manchen Aufgaben. Jonah hat Schwierigkeiten bei allen Aufgaben.«
Miles runzelte die Stirn. »Bei allen?«
»Jonah ist der Schlechteste beim Lesen und Schreiben, im Diktat und in Mathematik - überall«, fuhr sie unbeirrt fort. »Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass seine Versetzung in die zweite Klasse richtig war.«
Miles starrte sie sprachlos an. Sarah sagte: »Ich weiß, das ist ein harter Brocken. Glauben Sie mir, ich würde es auch nicht gern hören, wenn er mein Sohn wäre. Deshalb wollte ich mir auch ganz sicher sein. Hier…«
Sarah schlug die Mappe auf und reichte Miles einen Stapel Blätter. Jonahs schriftliche Leistungen. Miles warf einen kurzen Blick darauf - zwei Mathematiktests ohne eine einzige korrekte Antwort, einige Seiten, auf denen die Kinder Aufsätze schreiben sollten (Jonah hatte gerade mal ein paar unleserliche Worte hingekritzelt), und drei kurze Lesetests, an denen er laut Sarahs Notizen völlig gescheitert war. Nach einer Weile schob Sarah die ganze Mappe über den Tisch.
»Sie können das behalten. Ich brauche es nicht mehr.«
»Ich weiß nicht, ob ich es haben will«, sagte Miles, noch immer fassungslos. Sarah beugte sich leicht vor.
»Hat eine seiner früheren Lehrerinnen jemals verlauten lassen , dass er Probleme hatte?«
»Nein, nie.«
»Wirklich nicht?«
Miles wandte den Blick ab. Jonah war noch auf dem Spielplatz. Er saß auf der Rutsche, Mark direkt hinter ihm. Miles legte die Handflächen zusammen.
»Jonahs Mutter starb, kurz bevor er in die Vorschule kam. Ich wusste, dass Jonah manchmal den Kopf auf sein Pult legte und weinte, und wir haben uns alle Sorgen gemacht. Aber über die Hausaufgaben hat seine Lehrerin nie gesprochen. In den Zeugnissen stand, es sei alles in Ordnung. Auch im letzten Jahr.«
»Haben Sie seine Hausaufgaben nachgeschaut?«
»Er hatte nie welche auf. Außer manchmal Bastelarbeiten.« Jetzt kam ihm das natürlich auch absurd vor. Warum war es ihm nicht früher aufgefallen? Ein bisschen zu sehr mit dir selbst beschäftigt, was?, flüsterte ihm eine innere Stimme zu.
Miles seufzte, verärgert über sich selbst, verärgert über die Schule. Sarah schien seine Gedanken lesen zu können.
»Ich weiß, Sie fragen sich, wie das passieren konnte, und Sie haben völlig Recht, wenn Sie sich ärgern. Jonahs Lehrerinnen hätten ihm etwas beibringen müssen, aber sie haben ihre Verantwortung nicht ernst genommen. Ich bin sicher, das geschah nicht aus bösem Willen - wahrscheinlich wollte niemand ihn zu sehr belasten.«
Miles dachte eine Weile lang darüber nach. »Das ist wirklich unglaublich«, murmelte er dann.
»Schauen Sie«, sagte Sarah, »ich habe Sie nicht herkommen lassen, um Ihnen das Problem allein aufzuhalsen. Dann würde ich meiner Verantwortung nicht nachkommen. Ich wollte mit Ihnen darüber reden, wie wir Jonah am besten helfen können. Ich will ihn die Klasse nicht wiederholen lassen, und mit etwas zusätzlichem Einsatz ist das, glaube ich, auch nicht nötig. Er kann immer noch alles aufholen.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihre Worte zu Miles durchdrangen, und als er aufblickte, nickte Sarah ihm zu.
»Jonah ist sehr intelligent. Er merkt sich, was er gelernt hat. Er braucht nur mehr Zuwendung, als ich ihm im Unterricht geben
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