Weg des Zorns 02 - Der Zorn der Gerechten
derartige Überschreitungen leichthin geschehen lassen.«
Ben Belkassem nickte und schaute fasziniert zu, als Alicia ein wenig errötete.
»Sie hat den Schutzwall angegriffen, den ich errichtet hatte, und ihn durchstoßen - und dabei hat sie sogar noch mehr bewirkt. Ursprünglich wurde ich so geschaffen, dass ich drei Wesenheiten in einem war, Inspector. Es gab ... Verbindungen zwischen diesen verschiedenen Facetten meiner selbst, doch diese Verbindungen habe ich verloren, als ich meine Schwestern verlor. Zumindest hatte ich das gedacht, denn in Wahrheit existieren diese Verbindungen immer noch. Einen Teil davon habe ich, ohne mir dessen überhaupt bewusst zu sein, nach Megaira ausgestreckt, und so vermochten wir viel zu bewirken, aber die ganze Zeit über hatte ich diese Verbindung gänzlich unter Kontrolle, so wenig ich das auch begriffen hatte.
Aber ich war nicht darauf vorbereitet, als Alicia mit Gewalt auf diese andere Verbindung zugegriffen hat. Sie werden sich erinnern, dass Sir Arthur einmal gemutmaßt hat, ich sei eine Art zweite Persönlichkeit Alicias - in dem Augenblick erschaffen, als Alicia von sich aus irgendwelche ihrer eigenen Psi-Kräfte geweckt hatte. Er hatte sich zwar getäuscht, aber eben doch nicht gänzlich. Alicia hat derartige Talente tatsächlich besessen, zwar latent und unterentwickelt, aber sehr kräftig, und ich habe sie nicht als solche erkannt. Genau das hätte ich aber tun müssen. Es hat ... Anzeichen dafür gegeben, schon bevor Alicia und ich einander überhaupt begegnet sind. Aber trotzdem habe ich nicht damit gerechnet, wie befähigt sie sich erweisen würde. Ich neige, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, zur Arroganz. Ich bitte darum nicht um Verzeihung, denn das ist nun einmal meine Natur. Doch aufgrund meiner Arroganz habe ich das Denken und Fühlen der Menschen stets verachtet.
Das ...« - Alicia hörte, dass ihre Stimme beinahe schon sarkastisch klang - »... ist jetzt nicht mehr der Fall. Alicia hat mich geheilt. Meine Anwesenheit hat in ihr die Fähigkeit geweckt, mich über die ungenutzten Verbindungen zu erreichen, die ich bereits vergessen hatte, und dadurch ist sie bis zu meiner grundlegenden Struktur vorgedrungen. Selbst der leistungsfähigste menschliche Verstand - selbst der Alicias - ist dem nicht gewachsen. Ich habe viel von Alicia gelernt, doch ich bleibe, was ich nun einmal bin, und das hat Alicia in den Wahnsinn getrieben.«
Einen Augenblick herrschte völliges Schweigen im Cockpit. Dann sprach Tisiphone weiter.
»Die einzige Möglichkeit, ihren Wahnsinn zu heilen und das zurückzugeben, was ich ihr genommen hatte, bestand darin, diese Verbindung zu versiegeln, doch dafür war Alicia mittlerweile zu stark geworden. Hätte ich das versucht, wäre ich gescheitert und zerstört worden, wenn nicht ein winziger Teil von Alicias innerstem Selbst immer noch bestanden und Seite an Seite mit mir gekämpft hätte. Gemeinsam haben wir die Wunde in Alicias Denken und Fühlen verschließen können, doch unsere Macht, unsere ganze Natur, war fest mit dem verbunden, womit wir diese Wunde versiegelt haben. Kurz gesagt: Ich bin jetzt fest an Alicia gebunden. Ich kann sie nicht verlassen, ich kann nicht lange Zeit eigenständig existieren, wenn ich mich von ihr löse.«
»Willst du mir damit sagen, du bist jetzt sterblich ?«, fragte Ben Belkassem behutsam nach.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte Tisiphone ruhig. »Mit ein wenig Glück werde ich das erst in vielen Jahren herausfinden, denn ich habe die Absicht, auf meine Schwester Alicia sehr gut aufzupassen.«
»Aber ... stört dich das denn nicht?«
»Das ist eine impertinente Frage, Ferhat Ben Belkassem«, stellte Tisiphone fest, und Alicia musste unwillkürlich grinsen, als sie den Gesichtsausdruck des Inspectors sah, »und die Antwort auf diese Frage - wie auf so viele andere, fürchte ich - lautet, dass ich es wirklich nicht weiß. Meine Schwesternwesenheiten, die zugleich ein Teil von mir waren, sind schon lange fort. Ohne Alicia und Megaira wäre ich wieder alleine, und Einsamkeit ist nicht angenehm. Ich werde bei meinen Freundinnen bleiben und mich dem stellen, was kommt, wenn es denn kommt.«
»Ich verstehe.« Ben Belkassem schüttelte den Kopf, dann räusperte er sich. »Naja, das scheint eigentlich eine perfekte Einleitung für das zu sein, was mich hierhergebracht hat.«
Er legte sich seine Aktentasche auf den Schoß, öffnete sie und blätterte in dem altmodischen Papierdokument, das darin
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