Weg mit den Pillen
wollte also aus ethischen Gründen den Patienten der Placebogruppe das wirksame Aspirin nicht vorenthalten.
Sieht man sich nun die Daten etwas genauer an, so bemerkt man: In diese Studie wurden mehr als 10 000 Menschen eingeschlossen und über etwa fünf Jahre lang beobachtet. Aus der grundlegenden Statistik ist klar, dass mit einer so großen Zahl von Probanden auch der kleinste Effekt als statistisch bedeutsam belegt werden kann. In der Tat, der Effekt ist winzig. Aber weil man eben der Verhütung des Herzinfarktes so hohen Wert beimaß und Aspirin vergleichsweise
billig und unkompliziert zu sein schien, darum erschien auch ein sehr kleiner Effekt klinisch sinnvoll. Die Größe des Effekts beträgt in dieser großen Studie ungefähr 0.05. 22
Zum Vergleich: Wir haben vor einiger Zeit eine Metaanalyse publiziert – also eine Studie, die die Ergebnisse anderer Studien statistisch zusammenfasst. Darin trugen wir alle damals verfügbaren Studien zusammen, die sich mit der Frage beschäftigt hatten, ob Achtsamkeitsmeditation in der Behandlung chronischer Gesundheitsprobleme hilfreich ist, etwa bei chronischen Schmerzen, Angstzuständen und Ähnlichem. Die Effektgröße, die wir ermittelt haben, ist ziemlich genau zehnmal so groß wie der Effekt, den Aspirin zur Vorbeugung von Herzinfarkt hat. Natürlich, chronische Schmerzen und Herzinfarkt sind zwei völlig verschiedene Kategorien, das ist richtig. Mir geht es hier auch einzig und allein darum, ein wenig Verständnis für das Konzept eines »klinisch bedeutsamen Effekts« zu wecken. Diese klinische Bedeutsamkeit ist nämlich von der statistischen Signifikanz verschieden. Während klinische Studien zunächst nach der statistischen Signifikanz fragen (»Hat das Medikament wirklich einen Effekt oder trat die Wirkung nur zufällig auf?«), müssen sich die Behörden und wir als Verbraucher nach der klinischen Relevanz und Bedeutung eines Effekts fragen. Und hier sind wir wieder beim Thema.
Aspirin wird mittlerweile in der Primärprävention von Herzinfarkt, also zur Verhütung eines allerersten Infarktes bei Menschen, die vielleicht gefährdet sind, aber noch nie einen Infarkt hatten, nur noch äußerst restriktiv eingesetzt. Warum? Weil es eben auch verschiedene Nebenwirkungen hat. So wird zum Beispiel durch die Verdünnung des Blutes auch die Gefahr von Gehirnblutungen oder anderen Blutungen erhöht. Und in der Abwägung ist dann der Effekt der Herzinfarktprävention doch zu klein. In der Sekundärprävention allerdings spielt Aspirin noch eine Rolle – also bei Patienten, die schon einmal einen Herzinfarkt hatten. Hier ist die Gefahr eines zweiten Infarktes viel höher, die Nebenwirkungen sind im Vergleich zu dieser Gefahr weniger wichtig, und der Effekt kann gezielter eingesetzt werden.
Wir sehen also: Ob eine in einer Studie getestete Substanz sinnvoll einzusetzen ist, hängt nicht nur davon ab, ob der klinische Test eine Überlegenheit gegenüber Placebo gezeigt hat, sondern auch davon, ob die Größe dieses Effekts im Kontext aller anderen Bedingungen – Nebenwirkungen, Kosten, Bedeutung der Erkrankung – lohnenswert ist.
Die Logik der Medikamententestung führt aber nun dazu, dass wir generell und prinzipiell nur auf den Unterschied schauen, der zwischen der Placebogruppe und der Behandlungsgruppe zu messen ist. Die Effektstärke sagt uns, wie groß dieser Unterschied ist. Implizit gehen wir dabei davon aus, dass die Placebokomponente des Tests wie ein Hintergrundrauschen immer gleich groß ist, sozusagen das Urmeter der klinischen Testung, unverzerrt und stabil. Das Vertrackte ist nun Folgendes: Zum einen täuschen uns die Signifikanzen der Statistik darüber hinweg, dass die gefundenen Effekte (etwa die der konventionellen Pharmakologie) oft praktischklinisch viel weniger Bedeutung haben, als wir denken. Das führt zu einer Verzerrung der Wahrnehmung, die die klinische Brauchbarkeit der pharmakologischen Effekte überschätzt. Zum anderen kann es sein, dass manche therapeutischen Maßnahmen dazu führen, dass die ganz allgemeinen therapeutischen Effekte, die in den Placebogruppen abgebildet werden, so groß sind, dass es sehr schwierig wird, darüber hinaus noch sogenannte spezifische Effekte abzubilden. Dann sagt der wissenschaftliche Beobachter, der nicht sorgfältig genug hinsieht: Diese Maßnahme ist nicht besser als Placebo und daher unwirksam. Aber eigentlich ist die Maßnahme vielleicht viel effektiver als eine andere, deren Überlegenheit über
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