Weg mit den Pillen
Moleküle, die sich im Blut befinden, nicht einfach ins Gehirn. Nur sehr kleine Moleküle können das. Andere
müssen dorthin befördert werden. Oftmals werden Moleküle auch vorher abgebaut, bevor sie in relevanter Dosis im Gehirn ankommen. Daher dauerte es eine ganze Weile, bis man Substanzen entwickelt hatte, die dazu führen, dass das Serotonin für das Gehirn länger verfügbar bleibt. Solche Substanzen heißen selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (abgekürzt SSRI, abgeleitet vom englischen Fachbegriff »Selective Serotonin Reuptake Inhibitors«). Solche Substanzen führen dazu, dass das Serotonin, das zum Übertragen von Nervenimpulsen freigesetzt und anschließend wieder von der Zelle aufgenommen wird, länger verfügbar bleibt, indem die Wiederaufnahme blockiert wird.
Man hat bei depressiven Menschen in der Tat – vor allem in Obduktionsstudien, aber neuerdings auch mit radioaktiver Bildgebung – gesehen, dass das Serotoninsystem bei ihnen weniger aktiv ist als bei anderen Menschen. Daher ist ja auch die Idee naheliegend, diesem System zu helfen, indem man mehr Serotonin verfügbar hält. Und man sollte denken, dass das auch therapeutisch extrem wirksam ist. Wie sieht nun die Datenlage aus?
Alle SSRI sind in einer langen Serie von Doppelblindstudien gegen Placebo getestet worden. Wenn man der offiziellen Sprachregelung folgt, dann sind sie erfolgreich, denn sie sind Placebo überlegen. Wenn man alle publizierten Studien heranzieht, dann findet man einen signifikanten Effekt, der auch klinisch einigermaßen bedeutsam ist. Er ist etwa zehnmal so groß wie der oben erwähnte von Aspirin zur Vorbeugung von Herzinfarkt und ungefähr so groß wie der, den wir zur Beschreibung der Wirksamkeit von Achtsamkeitsmeditation bei chronischen Gesundheitsproblemen gefunden haben.
Wenn man aber genauer hinsieht, dann entdeckt man Folgendes: Die meisten dieser Studien sind (direkt oder indirekt) von der pharmazeutischen Industrie durchgeführt oder bezahlt worden, die solche Substanzen entwickelt. Denn sie hat ja auch ein Interesse daran, dass diese Substanzen auf den Markt kommen. In den USA müssen die pharmazeutischen Unternehmer alle Studien bei der Zulassungsbehörde, der sogenannten Food and Drug Administration
(FDA), einreichen. Es genügt, wenn eine oder zwei Studien eine signifikante Überlegenheit über Placebo zeigen, dann erhält das Präparat eine Zulassung. Dass dabei auch so manche negative Studie dabei ist, bei der keine Überlegenheit über Placebo herausgekommen ist, das zählt nicht, solange hin und wieder eine Überlegenheit gezeigt werden kann.
Was passiert nun mit den negativ ausgegangenen Studien? Sie bleiben in den Archiven der FDA oder in den Schubladen der Pharmaindustrie liegen. Nur selten werden solche negativen Befunde publiziert. Es gibt zwar mittlerweile eine laute Lobby von Forschern, die fordert, dass alle Befunde – auch die negativen – publiziert werden müssen. Warum? Weil nur so die Effektstärke, die eine Intervention hat, ohne Verzerrung geschätzt werden kann, wenn man etwa viele solcher Studien in Metaanalysen zusammenführt und statistisch ausrechnet, wie groß eben dieser Effekt ist.
Man kann das Problem leicht an folgendem Beispiel verdeutlichen: Stellen Sie sich vor, mehrere Schulklassen einer Schule machen einen Pisa-Test. Jeder Schüler macht mit. Der Schulleiter will, dass seine Schule als diejenige dasteht, die die klügsten Kinder hat. Damit ihm das gelingt, wertet er in einer Nacht- und Nebelaktion heimlich alle Tests aus und schließt diejenigen weg, die unter dem Durchschnitt liegen. Die anderen gibt er weiter an die zentrale Erfassungsbehörde. Diese ermittelt den Durchschnitt und verkündet, besagte Schule sei am besten, weil die Schüler beim Pisa-Test am besten abgeschnitten hätten. Jeder erkennt sofort das Problem und den Betrug. Durch das Unterschlagen der schlechten Ergebnisse wurde der Gesamtbefund verzerrt.
Das Gleiche passiert, wenn Forscher oder die Pharmaindustrie negative Studienergebnisse unterschlagen. Der Effekt von SSRI und anderen pharmakologischen Substanzen wird kolossal überschätzt. Dabei ist eben wichtig zu sehen, dass die Zulassungsbehörde gleichsam statistisch denkt. Für sie ist nur wichtig, ob mindestens eine Studie statistische Signifikanz bewiesen hat, egal wie groß der Effekt war. Denn statistische Signifikanz bedeutet: pharmakologische Wirksamkeit, da der Unterschied zu Placebo gesichert
ist. Für den Endverbraucher aber ist
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