Weg mit den Pillen
statistische Signifikanz nur ein Teil der Botschaft. Er will wissen, wie groß der Effekt denn wohl ist, den man mit einer solchen Intervention im Normalfall erzielt – nicht nur, ob sich ein solcher Effekt statistisch von Placebo unterscheidet. Und um das zu wissen, muss man eben alle Daten, alle Studien in die Rechnung einbeziehen. Genauso wie man bei der Beurteilung von Schülerkenntnissen auch alle Pisa-Test-Ergebnisse zusammenrechnen muss.
Nun haben kürzlich einige Forschergruppen unabhängig voneinander die Archive der FDA aufgesucht und die Daten der negativ ausgegangenen Studien mit eingerechnet. Sie fanden: Von insgesamt 74 durchgeführten Studien blieb knapp ein Drittel unpubliziert. Nur drei der negativ ausgegangen Studien waren publiziert. 22 blieben unpubliziert und elf negative Studien wurden so publiziert, dass sie als positiv dargestellt wurden. Nimmt man nur die publizierten Daten, so hat es den Anschein, als wären 94 Prozent der Studienergebnisse positiv. Nimmt man alle Befunde, so sinkt dieser Prozentsatz auf nur noch 51 Prozent. Dadurch steigt die geschätzte Effektstärke dieser Antidepressiva erheblich. Während in der publizierten Literatur die Effektstärke der SSRI in Metaanalysen etwa 0.5 beträgt, sinkt sie, wenn man die negativen Studien korrekt mit einrechnet, auf 0.3.
Zum Vergleich: Wir haben eine Studie durchgeführt, bei der Fernheilung bei chronischen Müdigkeitspatienten eingesetzt wurde. Insgesamt sahen wir keinen spezifischen Effekt der Behandlung. Aber wenn man alle behandelten Gruppen mit der unbehandelten vergleicht, dann ergab sich exakt die gleiche Effektstärke wie die, die man findet, wenn man alle oben genannten Depressionsstudien – auch die unpublizierten – zusammenrechnet. Zwar ist diese Effektstärke ein Maß, das die Überlegenheit über Placebo in Zahlen ausdrückt, aber bezogen auf die vermeintliche Klarheit und Sicherheit der dahinterliegenden Theorie ist der Effekt eben doch eigentlich erstaunlich klein.
Wenn man nun einmal zur Abwechslung nicht nur auf den Unterschied sieht, den man wahrnimmt, wenn man die pharmakologische
Depressionstherapie mit Placebo vergleicht, sondern auf den Effekt, den die Therapie insgesamt hat, so ist dieser wiederum eigentlich erstaunlich hoch. Daher kommt es auch, dass diese Medikamente so beliebt sind. Sie scheinen gut zu wirken. Manche Forscher sind der Meinung, dass dies nur deswegen so ist, weil eben die Placebokomponente der Behandlung so stark ist:
Man hat ein plausibles Modell (»Ihr Serotoninsystem ist zu wenig aktiv, wir sorgen dafür, dass mehr Serotonin zur Verfügung steht«). Man hat die mächtige Maschinerie der biologischen Psychiatrie im Hintergrund, mit all den hübschen Studien, die in Hochglanzbroschüren präsentiert werden – mit Diagrammen, deren Beschriftungen tunlichst nicht so üppig sind. All das flößt Vertrauen ein. (Es kommt hinzu, dass eine Depression ja ohnedies ein Krankheitsbild mit so manchen Schwankungen und Unwägbarkeiten ist.) Im Patienten wird die Hoffnung geweckt: Jetzt passiert das Wunder. Und in der Tat, das Wunder mag eintreffen. Denn viele Patienten in solchen Studien, auch unter Placebo, verspüren eine Besserung.
Der englische Psychologe Irving Kirsch, einer der führenden Forscher auf diesem Gebiet, hat in einer früheren Studie die Effekte bei Placebogruppen solcher Studien mit ähnlichen nicht behandelten Gruppen anderer Psychotherapiestudien verglichen. Er zog die Schlussfolgerung, dass etwa 75 Prozent des gesamten Effekts der Antidepressiva-Therapie auf die Placebokomponente zurückzuführen sind. 23 In einer neueren Analyse hat er diese Daten untermauert und gezeigt, dass nur bei wirklich sehr schwer depressiven Patienten der pharmakologische Effekt wissenschaftlich-statistisch vom Placeboeffekt zu trennen ist. 24 Anders ausgedrückt: Erst wenn der Patient keine Hoffnung, keine Erwartung und keine eigene Dynamik mehr mobilisieren kann, erst dann zeigt sich der pharmakologische Effekt. Ansonsten sind der psychologische und der pharmakologische Effekt so miteinander verquickt, dass es schwierig ist, die beiden auseinanderzudividieren.
Damit zeigt sich auch: Die Annahmen der biologischen Psychiatrie stimmen teilweise – aber eben auch wirklich nur teilweise. In einer neueren Untersuchung, in der die pharmakotherapeutische
Behandlung der Depression in der niedergelassenen Praxis abgebildet wurde, hat sich dieses zweifache Bild bestätigt. Sie wurde oben als STAR*D-Studie
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