Wege des Herzens
einredete und sie unentwegt streichelte.
»Du weißt doch, dass ich dich liebe, oder?«, fragte er.
»Ja«, antwortete sie.
»Warum dann dieses traurige Gesicht?«
Ania zwang sich zu einem kleinen Lächeln. Er hatte ihr noch immer nicht erklärt, woher die Haarnadel in seinem Bett stammte. Er hatte auch nicht abgestritten, dass jemand bei ihm gewesen war. Mit einem schmerzhaften Ziehen im Herzen fragte sie sich, wer das wohl gewesen sein könnte. Vielleicht diese Oliwia, dieses aufdringliche Mädchen mit dem reichen Vater. Lidia hatte etwas in diese Richtung angedeutet, aber Ania hatte nicht darauf geachtet.
»Wo ist eigentlich Oliwia heute Abend?«, wollte sie wissen. Ihre Frage traf Marek vollkommen unvorbereitet.
»Äh, Oliwia – sie kommt doch nicht jeden Abend«, erwiderte er hastig.
»Nein, nein, natürlich nicht …« Ania stand auf, ging zur Kaffeemaschine und setzte für ihre Gäste ein strahlendes Lächeln auf. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Marek den Daumen in die Luft reckte, nach dem Motto: »Sie hat’s geglaubt!«
Roman und Lev tauschten erleichterte Blicke. Die Krise war vorüber.
Oliwia musste noch in die Schule gehen, bis sie achtzehn Jahre alt war, und danach wollte sie an die Universität und studieren – das hatte sie jedenfalls ihrer Clique im Café an der Brücke erzählt. Doch ihre Pläne änderten sich. Wenige Monate nach der Eröffnung des Lokals war die Universität kein Thema mehr für sie. Ein Studium werde oft überschätzt, meinte Oliwia, und schließlich habe sie alles, was ein Mensch sich wünschen könne, direkt vor der Haustür.
Ania hätte gern mit Marek darüber gesprochen, aber er war oft geschäftlich unterwegs und versuchte, Geld für sein Café aufzutreiben. Die Musikbox hatte sich noch nicht amortisiert, die Kaffeemaschine ebenso wenig, und die Löhne, die sie jeden Freitag bar auszahlten, wurden immer mehr gekürzt.
Ania hoffte, dass er bald einen Investor finden würde. Roman und Lev gingen jedem Gespräch über dieses Thema aus dem Weg; wahrscheinlich, weil sie sich wegen ihrer Schulden größere Sorgen machten, als sie zugeben wollten. Doch sicher würde Ania bald mehr erfahren.
Mamusia hatte einige Tage mit einem schweren Husten im Bett gelegen, und Ania bemühte sich, ihre Arbeitszeiten so zu legen, dass sie ihre Mutter versorgen konnte. Sie war nachmittags nach Hause gekommen und hatte frisches Brot gebacken und Suppe gekocht; inzwischen sah ihre Mutter wieder etwas besser aus. Ania beschloss, ihr noch ein wenig Gesellschaft zu leisten.
»Dir geht es ja schon viel besser, Mamusia, du bist bestimmt bald wieder gesund«, sagte Ania aufmunternd zu ihr.
»Ich bete zu Gott und der Heiligen Jungfrau Maria, dass ich es noch erleben darf, dass du einen braven Mann findest und dein eigenes Heim hast. Dann verabschiede ich mich leichten Herzens von dieser Welt.«
Manchmal hätte Ania ihrer Mutter gern erzählt, dass sie diesen Mann bereits gefunden hatte und dass in dem Café an der Brücke auch schon ein Zuhause auf sie wartete, aber sie und Marek hatten beschlossen, erst über ihre Beziehung zu reden, wenn sie auch offiziell zusammen sein konnten. Als Ania zum Café zurückging, sah sie zu ihrer Erleichterung, dass es bereits sehr voll war. Marek würde zufrieden sein, wenn er heute Abend zurückkam.
Auch Oliwia war da und stand im Mittelpunkt des Interesses mit ihrem funkelnden Verlobungsring, einem kleinen Diamanten, den sie jedem zeigte. Ania freute sich über diese Entwicklung, denn das hieße, dass sich Oliwia in Zukunft nicht mehr ständig im Lokal aufhalten würde, in der Hoffnung, dass Marek mit ihr tanzte. Doch würden ihm nicht die Einnahmen fehlen, die ihm dadurch entgingen? Wären Oliwia und ihr Ehemann weiter Stammgäste im Café, oder hätte sie alle Hände voll damit zu tun, das große Haus einzurichten, das ihr Vater ihr sicher kaufen würde?
Ania wollte sich gerade zu der Gruppe gesellen, die den Ring bewunderte, als Marek durch die Tür kam.
»Da
ist
er ja!«, rief Oliwia, und plötzlich nahm Ania wie in Zeitlupe wahr, dass Oliwia zu Marek lief und ihm den Arm um die Hüfte legte. Und Marek lächelte und nahm die Glückwünsche und den Applaus entgegen. Es war unfassbar.
Ania fühlte sich einer Ohnmacht nahe. Es musste ein Irrtum vorliegen. Vielleicht spielten sie ihr einen Streich? Gleich würden alle darüber lachen, dass sie dies in ihrer Naivität für bare Münze genommen hatte. Doch wie ein Scherz sah das nicht
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