Wege im Sand
Das hat mir meine Mutter beigebracht …« Emma verstummte; der unausgesprochene, unvollendete und traurige Teil dieses Gedankens war, dass Stevie keine Mutter hatte, die ihr etwas beibringen konnte. »Die Vorstädte sind kein Pflaster für Leute wie sie, nicht einmal wenn sie auf der Durchreise wären. Kannst du dir vorstellen, wie die Ladys am Strand ausflippen würden, wenn wir sie anschleppten? Nein, wir müssen ihr hier helfen, in ihrem Revier.«
»Damit wir an den Strand zurückkehren und sie vergessen können?«
»Ja, und das ist nicht gemein, Stevie. Wir kaufen ihr etwas zu essen, damit ist ihr mehr geholfen. Und dann fahren wir nach Hause.«
Stevie erinnerte sich daran, dass sie sich hundeelend gefühlt hatte. Leute wie sie; hatte Emma das wirklich gesagt? Dennoch schien ihre Hilfsbereitschaft aufrichtig zu sein. Sie klopfte ihre Taschen ab, auf der Suche nach Geld. Stevie warf einen Blick in ihre Börse. Die Ausbeute war mager: Zusammen hatten sie gerade einmal sechs Dollar fünfzig.
Als sie an dem eleganten Backsteingebäude des Bahnhofs ankamen, hatte die sechzehnjährige Emma zwei Kadetten von der Coast Guard Academy entdeckt. Die jungen Männer standen in ihren weißen Uniformen auf dem Nebengleis und warteten auf den Zug. Die Hosen waren tadellos, mit scharfen Bügelfalten und auf Hochglanz polierten Schuhen. Über ihnen gurrten Tauben in den Dachtraufen. Die Sirenen der Fähren erklangen, und das Kreischen der Seemöwen drang vom Pfahlwerk des Kais herüber. Am anderen Ufer des Thames River lagen die gerade erst gebauten Unterseeboote in den offenen Schwimmdocks von Electric Boat.
Emmas Haar war von der Fahrt im offenen Wagen zerzaust. Ihre Haut war gebräunt und schimmerte. Sie trug eine Halskette und ein Armband aus Gold. Das klamme T-Shirt klebte an ihrem Körper, und Stevie sah, dass die beiden jungen Männer sie bemerkt hatten, noch bevor sie sich ihnen näherte.
»Hallo«, sagte sie.
»Hallo«, erwiderten die beiden wie aus einem Mund.
»Wir sammeln Geld. Meine Freundin und ich.«
Die jungen Männer sahen die beiden Mädchen an, die offensichtlich frisch vom Strand kamen, und bemühten sich, ein Lachen zu unterdrücken.
»Für einen guten Zweck«, fügte Emma hinzu. »Da ist eine Frau, die hungert, und wir möchten ihr etwas zu essen kaufen. Meine Freundin wird in Tränen ausbrechen, wenn Sie uns nicht helfen. Ehrlich.«
Die Kadetten brauchten genau dreißig Sekunden, um ihre Brieftaschen zu zücken. Stevie sah verwundert zu, wie Emma lächelte, herausfordernd und fügsam zugleich, und wie sie die beiden auf die Wange küsste, als sie ihr das Geld gaben, und sich bei ihnen bedankte, weil sie mit ihrer Arbeit die Sicherheit der Küste für die Allgemeinheit gewährleisteten.
»Das war ein Klacks«, sagte Emma, als sie sich wieder zu Stevie gesellte.
Die Männer hatten ihr je zehn Dollar gegeben.
Nach Madeleines Ankunft fuhr Stevie zur Bank Street zurück. Sie gingen zu dem aus Granit gebauten Custom House und hielten Ausschau nach der Frau. Der Einkaufswagen war noch da, abgestellt in der schmalen Gasse, aber sie selbst war verschwunden. Sie fuhren im Schritttempo die Straße entlang, auf der Suche nach ihr.
»Wir müssen sie finden«, sagte Stevie.
»Zerbrich dir ihretwegen nicht den Kopf«, meinte Emma. »Wahrscheinlich war ihr heiß in der Sonne, und sie hat sich ein schattiges Plätzchen gesucht.«
»Wir müssen ihr das Geld geben«, sagte Stevie.
»Sie hat bisher auch ohne unsere Hilfe überlebt«, erwiderte Emma. Die Worte waren hart, aber ihre Stimme klang sanft. Stevie wusste, dass Emma sie aufzumuntern versuchte, als sie sich zum Rücksitz umdrehte und Maddie berichtete, dass Stevie die Welt retten wollte, indem sie Obdachlose nach Hubbard’s Point schleppte.
Sie warteten eine Viertelstunde oder zwanzig Minuten. Emma wurde ungeduldig; Stevie merkte es daran, dass sie ständig den Radiosender wechselte, auf der Suche nach guter Musik. Die Frau kehrte nicht zurück. Stevie faltete die beiden Zehn-Dollar-Noten zusammen und schob sie in eine zerlumpte Decke, die sich oben auf dem voll gepackten Einkaufswagen befand.
Emma stieg aus und nahm einen der beiden Scheine an sich.
»Damit werden wir uns etwas zu essen kaufen«, sagte sie. »Sich um andere zu kümmern ist gut und schön, solange man sich selbst dabei nicht vergisst.«
»Emma …«
»Ich habe gebettelt, damit diese Frau etwas zu essen hat. Ich bin jetzt eine Bettlerin – meine Mutter würde mich umbringen,
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