Wege im Sand
schon, wenn ihr etwas erwischt habt.«
»Und was benutzt du?«, fragte Jack, weil es keinen dritten Rechen gab.
Stevie hob strahlend einen triefenden roten Laufschuh aus dem Wasser. »Meine Füße!«
Sie legten los. Jack harkte den Sand, empfand dabei eine seltsame Befriedigung und Aufregung. Die Ungewissheit, wann ein Schatz im Rechen hängen blieb, hatte etwas für sich. Er dachte daran, wie ergebnisorientiert und professionell er sonst immer war. Wenn er Linien und Winkel, Pläne und Blaupausen zeichnete, wurden nach seinen Vorgaben Brücken gebaut, so sicher wie das Amen in der Kirche. Er war ein Mann, der Wert auf Gleichungen legte, die lösbar, und auf Formeln, die verlässlich waren. Er neigte zu hieb- und stichfesten Schlussfolgerungen.
Genau das war Schottland für ihn. Er war der Meinung gewesen, es sei am besten, bei Structural zu kündigen, seine Tochter einzupacken und die Wahrheit so weit wie möglich hinter sich zu lassen – um anderswo ein glückliches, normales Leben zu beginnen. Doch sie ging ihm nicht mehr aus dem Kopf – die Freude daran, etwas völlig ohne Grund zu tun und zuzuhören, wie sich Stevie und Nell über Kunst unterhielten.
»Ich hab eine!«, schrie Nell.
Jack und Stevie bückten sich, sahen zu, wie sie den Rechen hochzog. Grauer Schlick tropfte ins Wasser, als Nell die ganze Ausbeute in den Eimer fallen ließ, der im Schlauch aufgehängt war. Das Wasser floss durch die Löcher ab, der Schlamm verteilte sich, enthüllte eine hübsche große Cherrystone-Muschel.
»Gut gemacht!«, lobte Jack.
»Ein prachtvolles Exemplar.« Stevie hielt die Muschel bewundernd ans Licht.
»Was machen wir damit?«, fragte Nell.
»Wenn wir mehr fangen, können wir abends Muscheln essen«, schlug Jack vor. »Vielleicht hat Stevie Lust, sich uns anzuschließen.«
»Gerne.« Stevies Gesicht glühte, genau wie Nells.
Sie suchten weiter, während die Sonne unterzugehen begann. Sie hatten wohl eine ergiebige Stelle entdeckt, denn plötzlich wurden alle fündig. Stevie spürte sie mit den Füßen auf, schob sie durch den Schlamm nach oben und holte sie heraus. Das Licht war klar und grau, mit einem Hauch Purpur und Gold. Es lag über dem Wasser, mattsilbern und schimmernd wie geschmolzenes Zinn, verwandelte die Granitklippen von North und South Brother, der beiden Felseninseln im Südosten, in glühendes Orange.
Die Gezeiten wechselten, und die Flut setzte ein. Jack spürte, wie das Wasser von den Knien bis zu den Oberschenkeln stieg. Bei Stevie reichte es bis zur Taille, und Nell stand bis zur Brust im Wasser. Die beide lachten und tauchten wie auf Kommando unter. Als sie wieder hochkamen, mit nassen Haaren und triefenden Schultern, klebte das schwarze T-Shirt an Stevies Körper. Ihre Augen blitzten vergnügt, als sie ihm einen Blick zuwarf, und er rang sich ein Lächeln ab. Sie war schön, strahlend, und Nell war von ihr hingerissen, aber sie war alles andere als eine ausgemachte Sache, und so zwang er sich, den Blick abzuwenden.
Sie gingen zu Stevies Haus. Da ihr Dad so groß war, waren seine Kleider nicht nass geworden. Deshalb ging er in die Küche, um die Muscheln zu putzen, während sich Nell und Stevie unter der Außendusche das Salz von der Haut spülten. Es machte Nell Spaß, draußen in der kühlen Luft zu stehen, den Geruch von Geißblatt und Sassafras in der Nase, während das heiße Wasser über ihren Kopf rann.
Sie wickelten sich in Handtücher ein und liefen barfuß den Hügel hinauf, in die Küche.
»Nicht hinschauen, Dad«, lachte Nell, und ihr Vater tat, als schlage er die Hände vor die Augen. Sie ging mit Stevie nach oben, weil ihre Kleider klatschnass waren. Stevie kramte in den Schubladen, um etwas Passendes zum Anziehen für sie zu finden.
»Wie wäre es damit?« Sie hielt eine dreiviertel lange Hose und ein Sweatshirt hoch.
»Schön.« Sie zog beides an. Das T-Shirt gefiel ihr, weil es weich war und nach Stevie roch. Stevie fand eine große Sicherheitsnadel und steckte den Bund der Hose fest, damit sie nicht herunterrutschte. Die Sonne war mittlerweile untergegangen, und der Vogel schlief in seinem Käfig. Nell ging zu ihm und betrachtete ihn, während Stevie sich ankleidete. Die Krähe sah einsam aus, hatte den Kopf unter ihrem Flügel verborgen. Der Anblick tat Nell in der Seele weh. Sie fragte sich, wo ihre Familie sein mochte.
Unten arbeiteten alle Hand in Hand, damit das Abendessen fertig wurde. Stevie zeigte Nell, wo die Sachen zum Tischdecken waren. Sie
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