Wege zu einem humanen, selbstbestimmten Sterben
selbständig, hatte viele soziale Kontakte und
führte mit ihren 86 Jahren ein abwechslungsreiches Leben. Ihre Tochter
beschreibt sie als eine starke Frau, fürsorglich und mit Interesse für andere
Menschen, dabei stabil in ihrem Gefühlsleben.
Medizinische Lage und
Entscheidungsfindung: Frau B. litt an mäßigem Bluthochdruck. In den Monaten vor ihrer Entscheidung,
ihr Leben zu beenden, hatte sie einige Male eine vorübergehende
Durchblutungsstörung des Gehirns (Transitorische ischämische Attacke, kurz tia) mit kurzen Ausfallerscheinungen.
Ihr Arzt hatte ihr erklärt, dass solch eine tia bei Bluthochdruck der Vorbote einer größeren Hirnblutung, verbunden mit
bleibenden Lähmungserscheinungen und/oder Sprachstörungen (Aphasie) sein kann,
die auch tödlich verlaufen könnte. Außerdem hatte Frau B. Altersdiabetes, die
sie aber mit Tabletten wirkungsvoll behandelte. Es gab also drei Diagnosen
(Bluthochdruck, tia und Diabetes
Typ 2). Einige Wochen vor ihrem Tod ging plötzlich ihre Sehkraft stark zurück,
so dass sie die Bildunterschriften im Fernsehen nicht mehr lesen konnte.
Frau B. hatte keine Angst vor
dem tödlichen Verlauf einer weiteren Gehirnblutung, aber sie fürchtete, dass
eine tia der Vorbote von Lähmungen
und Sprachstörungen sein und sie pflegebedürftig werden könnte. Ihr wurde klar,
dass sie dann als Pflegefall in ein Alten- oder Pflegeheim aufgenommen werden
müsste. Das hätte den Verlust ihres selbständigen Lebens bedeutet. Außerdem war
sie davon überzeugt, dass sie das Leben in vollen Zügen genossen hatte und es
nun auch genug für sie gewesen sei.
Während einer Periode von
mehreren Monaten besprach Frau B. mit ihrem Hausarzt ihren Wunsch, das Leben
auf eine gute Art zu beenden und wie sie das, ohne ihn zu belasten, in die
eigenen Hände nehmen könne. Frau B. fand selbst, dass kein unerträgliches
Leiden vorlag. Deshalb wollte sie ihn auch nicht um eine lebensbeendende
Maßnahme bitten, zumal sie so etwas grundsätzlich ablehnte. Sie wollte für ihr
Sterben selbst verantwortlich sein, solange das noch möglich war. Sie sprach
mit ihrem Arzt ausführlich über die Möglichkeit, durch Verzicht auf Nahrung und
Flüssigkeit aus dem Leben zu gehen. Der Arzt befand, dass Frau B. in der Lage
sei, diese wichtige Entscheidung selbst zu treffen und voll verantwortlich sei.
Mit ihren Kindern hatte sie ihr Vorhaben, ihr Leben so zu beenden, während der
Phase der Entscheidungsfindung nicht besprochen.
Drei Wochen vor ihrem Tod bat
die Tochter den Hausarzt, vorbei zu kommen, weil sich ihre Mutter nicht wohl
fühle. ‚Sie sagt, dass es ihr schlecht geht und sie bleibt im Bett liegen’.
Nach den vorangegangenen Gesprächen über ihren Wunsch zu sterben, gab es an
diesem Tag etwas in der Haltung der Frau, das den Arzt veranlasste, sie in
Anwesenheit der Tochter zu fragen: ‚Wollen Sie sterben?’ Die Antwort lautete:
‚Ja.’ Das kam für die Tochter unerwartet. Frau B. scherzte daraufhin: ‚Papa hat
gesagt, du brauchst nichts mehr zu essen, du kriegst dann oben was.’ Sie ließ
keine Diskussion über ihre Entscheidung zu, dass nun der richtige Moment
gekommen sei, mit dem Essen und Trinken aufzuhören. Die Tochter fragte den
Hausarzt: ‚Wie kann ich wissen, dass sie wirklich nicht mehr essen will?’ Der
Hausarzt nahm einen Teller mit Essen, der neben dem Bett stand und bot ihn Frau
B. an. Sie schüttelte den Kopf. ‚Nein, ich will nicht.’ Der Hausarzt sagte zur
Tochter: ‚Sie können es ihr anbieten, dann werden Sie schon sehen, was
passiert.’ Das beruhigte die Tochter etwas. ‚Wenn meine Mutter wirklich sterben
will, dann merke ich das so ganz sicher.’ Der Hausarzt hinterließ Frau B.
einige Schlaf- und Beruhigungstabletten für den Fall, dass sie diese gegen
Schlaflosigkeit oder andere unerwartete Beschwerden brauchen würde.
Am Tag, bevor sie ihren
Entschluss, mit dem Essen und Trinken aufzuhören, dem Hausarzt und ihrer
Tochter mitteilte, war Frau B. noch mit Freundinnen zum Senioren-Volkstanz
gegangen und hatte ihrer Tochter ein Essen gekocht.
Der Verlauf: Für ihre Umgebung fast
unmerklich verringerte Frau B. in der ersten Woche das Essen und Trinken. Auch
nach der ersten Woche trank sie hin und wieder kleine Mengen, aber reduzierte
das bald auf ein gelegentliches Eis am Stiel oder einen kleinen Schluck Kaffee.
Wenn ein Enkel zu Besuch kam, aß sie ‚zur Gesellschaft’ ein kleines 44 Häppchen
mit. Ihre Kinder waren abwechselnd immer bei ihr und verwöhnten sie.
Weitere Kostenlose Bücher