Wehe Dem, Der Gnade Sucht
auf dem Dachboden zu konzentrieren. Ganz gleich worauf, solange er nur die Stimme des Vaters ausblenden konnte. Vielleicht hatte der ja recht, und es waren wirklich alle Frauen schlecht, Caleb wollte nur nicht jeden Abend einen langen Vortrag darüber hören müssen.
Jedenfalls war es an dem Tag, als Caleb am Fluss mit einem Frosch spielte, den er Bogie getauft hatte. Er beobachtete, wie der Frosch hinüber zu einem Seerosenblatt im Reet schwamm. Hoffentlich klettert er darauf und fängt ein paar Insekten, dachte Caleb. Er sah fasziniert zu, wenn die lange Zunge herausschoss – wie es sich wohl anfühlte, wenn man so eine Zunge hatte und sich damit aus der Luft sein Essen angeln konnte? Es wurde langsam Abend, und ein Mückenschwarm tanzte über dem Wasser. Der Tisch war reich gedeckt für Bogie.
Der Frosch kletterte gerade mühsam auf das Blatt, als Caleb bemerkte, dass sich im Reet etwas bewegte. Es war ein graues Bündel und sah aus, wie ein altes Kleid, das jemand weggeworfen hatte. Caleb krempelte seine Hose hoch und watete durchs warme Wasser ins Reet. Als er sich nach dem Kleid bückte, stellte er fest, dass etwas darin steckte. Etwas Schweres, Blasses und Aufgequollenes.
Doch erst als er dieses Etwas umdrehte, erkannte er seine Mutter, die ihn aus toten weißen Augen anstarrte. Ihr Gesicht war grässlich grau und geschwollen, wie aufgepumpt.
Entsetzt wich er zurück. Das Wasser spritzte, er lief – weg, nur weg von diesem Horror. Aufgeschreckt sprang Bogie von seinem Blatt und tauchte ins Wasser, um sich zwischen den Schlingpflanzen am Ufer zu verstecken.
Dann hörte Caleb einen schrillen Schrei. Es dauerte, bis er begriff, dass er es war, der da schrie. Er kämpfte sich hinauf auf die Böschung und sank atemlos zwischen Baumwurzeln und Unkraut zu Boden. Zitternd wischte er sich das Wasser von der Stirn und aus den Augen und steckte den Kopf zwischen die Knie, um sich zu beruhigen.
Er hatte die Fahrt zum Fluss vor einer Woche mit seinem Vater so gut es ging verdrängt, die Erinnerung daran aus seinem Kopf verbannt. Doch jetzt kam alles wieder zurück und er sah vor sich, wie er seinem Vater nachts zum Fluss gefolgt war.
Das menschliche Gehirn kennt sonderbare Schutzmechanismen, und tatsächlich wurde Caleb erst jetzt klar, dass er seinem Vater dabei geholfen hatte, die Leiche seiner Mutter ins Wasser zu werfen – und dass sein Vater sie wahrscheinlich umgebracht hatte.
Unten im Fluss ließ Bogie, der Ochsenfrosch, seine Zunge herausschnellen und schnappte sich eine der Mücken aus der dichten Wolke des Insektenschwarms, der in der warmen, stillen Luft über dem Wasser tanzte. Doch der Junge oben auf der Böschung sah das nicht. Er weinte und erbrach sich ins Gras.
KAPITEL 22
Der junge Sergeant am Empfang nickte ihm zu, als Lee das Gebäude der Abteilung für Schwerverbrechen betrat. Ein älterer Kollege mit einem Klemmbrett in der Hand machte einen Scherz und der junge Sergeant lachte. Lee durchquerte die Eingangshalle und hoffte nur, dass das Gelächter nicht ihm galt. Man machte ihm immer wieder klar, dass er nicht wirklich zur Truppe gehörte. Das stimmte ja auch, schließlich war er kein Polizist und hatte auch nicht die entsprechende Ausbildung an der Akademie durchlaufen. Außerdem war er der einzige fest angestellte Profiler des gesamten NYPD. Hinzu kamen sein Bildungsgrad und die Familie, aus der er stammte. Die meisten Polizisten kamen aus einem anderen gesellschaftlichen Milieu und waren in aller Regel nicht in Princeton oder auf einer der anderen Eliteuniversitäten des Landes gewesen.
Chuck erwartete ihn bereits in seinem Büro.
»Hallo«, begrüßte Lee ihn, als er hereinkam. »Du wolltest mir etwas zeigen?«
»Ja«, bestätigte Chuck und kramte auf seinem Schreibtisch herum. »Ich könnte schwören, ich hatte sie hier irgendwo.« Chuck drückte auf die Sprechanlage und sagte laut: »Ruggles, würden Sie bitte kurz reinkommen?«
Kurz darauf stand Ruggles in der Tür.
»Ruggles, haben Sie die Papiere gesehen, die ich heute Morgen mitgebracht habe?«
»Meinen Sie die da?« Ruggles holte aus einer Ecke des Büros eine Aktenmappe aus Leder, öffnete sie und zog einige Papiere heraus.
»Ah, ausgezeichnet!«, rief Chuck und nahm sich die Blätter. »Wo wäre ich nur ohne Sie, Ruggles!«
»Sie kämen auch ohne mich wunderbar zurecht, Sir«, sagte Ruggles bescheiden. »Ist das dann erst einmal alles?«
»Ja – vielen Dank«, sagte Chuck und Ruggles verschwand.
»Erstaunlicher
Weitere Kostenlose Bücher