Wehe Dem, Der Gnade Sucht
Montag kam. Es war kein schlechter Job: Mindestlohn, Krankenversicherung, Rentenzahlungen. Und er musste bei der Arbeit nicht nachdenken und konnte stattdessen von seinem geliebten Guatemala träumen. Oder von dem kleinen Boot, das er sich in ein paar Jahren kaufen wollte. Lächelnd stellte er sich Carlitas Gesicht vor, wenn er ihr zeigen würde, wie viel Geld er in New York verdient hatte – in seiner Heimat gab es Jobs wie diesen gar nicht. Manchmal erledigte er hier im Gebäude auch kleine Reparaturarbeiten. Das Geld dafür bekam er dann oft schwarz – er war handwerklich begabt und stolz darauf, dass er auch etwas von Motoren verstand. Roberto stöpselte die Headphones in den iPod – ein Weihnachtsgeschenk von seinem ältesten Sohn. Dem ging es finanziell gut, er arbeitete in einem schicken Restaurant auf der Upper East Side. Roberto lud Mopp und Putzmittel auf den Wagen und fuhr dann mit dem Aufzug in den ersten Stock. So machte er es am liebsten. Er fing unten an und arbeitete sich Stockwerk für Stockwerk bis nach oben vor. Zum Schluss machte er dann oben in der Chefetage sauber. Von dort aus hatte man einen grandiosen Blick über die Stadt. Den genoss er in Ruhe. Wenn er fertig war, setzte er sich jedes Mal in den teuren Chefsessel im großen Eckbüro und legte die Füße auf die Tischplatte. Da schmeckte der Café con leche aus seiner Thermoskanne. Heiß war er und stark. Dabei ließ es sich wunderbar von den grünen Wäldern und weißen Stränden Guatemalas träumen.
Im ersten Stock machte er immer zuerst die Herrentoilette am Ende des Flurs. Er suchte in seinem iPod nach dem richtigen Song, um sich in Arbeitsstimmung zu bringen. Dann stieß er die Tür auf und zog den Wagen hinter sich her. Dabei starrte er weiter auf das Display seines iPods.
Als er den Kopf hob, sah er die Beine, die unter einer der Kabinentüren herausragten. Im ersten Moment glaubte er noch, da wäre wohl jemandem schlecht geworden.
»Hey, Mister, alles okay?«, rief er und nahm die Headphones ab.
Die Worte hallten von den Kacheln wider, doch es kam keine Antwort.
Roberto begann langsam zu ahnen, dass hier wohl etwas Schlimmes passiert war. Er wollte schon wieder hinausgehen, um Hilfe zu holen, hob dann aber doch den Kopf des Mannes in der Kabine an. Roberto ließ den Mopp fallen. Er stürzte aus der Toilette und rannte den Flur entlang. Später sollte er sich kaum noch erinnern, wie er die Polizei angerufen hatte.
KAPITEL 32
Kylie rannte ins Wohnzimmer, dicht gefolgt von Angelica. Meredith folgte den beiden möglichst langsam, damit niemand auf die Idee kam, sie wäre vielleicht auch darauf gespannt, was bei der Befragung des Ouija-Bretter passieren würde.
»Onkel Lee, willst du mitmachen?«, rief Kylie aus dem Wohnzimmer.
Lee sah seine Mutter an, die den Tisch abräumte.
»Komm, ich helfe dir«, sagte er zu ihr.
»Nein, nein, geh du zu Kylie – George kann mir helfen.«
George erhob sich so schnell vom Stuhl, dass der beinahe umfiel. Dann griff er nach einem Glas, und warf ein anderes dabei um.
»Geh rüber ins Wohnzimmer, Lee, ich mach das schon«, versicherte er, während er die Gläser einsammelte.
Mit seinem Wein ging Lee nach nebenan zu den Mädchen. Die hatten das Brett bereits auf dem Couchtisch vor dem Kamin aufgebaut.
Lee setzte sich auf den Boden neben Angelica, die auf einem großen Kissen Platz genommen hatte.
»Okay«, sagte Kylie, »alle bereit?«
Angelica nickte eifrig, ihre Augen leuchteten vor Aufregung. Meredith presste die Lippen zusammen und zuckte leicht mit den Schultern. Doch auch sie legte den Finger auf den Zeiger.
»Los, Onkel Lee!« Kylie nahm seinen Finger und legte ihn neben ihren.
»Weil ich das Geburtstagskind bin, darf ich die erste Frage stellen«, erklärte Kylie.
»Einverstanden«, sagte Angelica gespannt.
»Bist du echt?«, fragte Kylie mit einem Blick auf Meredith, die die Augen verdrehte.
Der Zeiger bewegte sich so schnell auf die rechte Seite des Bretts, dass Lees Finger beinahe abgerutscht wäre.
Bei JA blieb der Zeiger stehen.
Kylie sah Meredith triumphierend an, die ignorierte ihre Freundin jedoch.
George Callahan kam herein.
»Na, wie weit seid ihr schon?«, fragte er.
»Mach mit, Papa«, sagte Kylie. Lee zuckte zusammen, Kylie nannte ihren Vater nur selten so. Laura und George waren nicht verheiratet gewesen – sie hatte ihn nicht heiraten wollen. Obwohl Kylie dennoch Georges Nachnamen trug, wusste Lee doch, dass sie in Fionas Augen durch und durch eine
Weitere Kostenlose Bücher