Wehe Dem, Der Gnade Sucht
wem?«
Noch bevor Charlotte es aussprach, wusste Lee die Antwort.
»Ana Watkins.«
KAPITEL 52
Caleb öffnete vorsichtig die Haustür, um seinen Vater nicht auf sich aufmerksam zu machen. Sein Schatz steckte gut verstaut in seiner Manteltasche. Er hatte ihn sorgfältig in Plastik verpackt. Leise schloss er die Tür und schlich auf Zehenspitzen am Wohnzimmer vorbei zum hinteren Schlafzimmer. Als er die Schlüssel aus seiner Tasche zog, klimperten sie, seine Hände zitterten leicht. Er ließ einen Schlüssel ins Schloss gleiten, drehte ihn schnell herum und drückte gegen die Zimmertür. Die schwang in ihren gut geölten Angeln auf und gewährte nun Zugang zu seinem Refugium, seiner Festung, seinem Allerheiligsten.
Er trat ein und schloss die Tür hinter sich. Niemand durfte hier herein – dieser Raum gehörte nur ihm und seinen Schätzen. Caleb holte das Päckchen aus seiner Jackentasche und entfernte vorsichtig das Gummiband vom Plastikumschlag. Dann ließ er den Inhalt in seine Hand gleiten. Er erschauerte, als er sie fühlte, weich und glatt und feucht wie Aale. Er nahm sie näher in Augenschein – jedes Paar war anders, und je mehr er sammelte, desto mehr faszinierte ihn ihre Unterschiedlichkeit – die einzigartigen Farbschattierungen von Blau, Braun und – seiner Lieblingsfarbe – Haselnuss.
Caleb betrachtete das Paar in seiner Hand. Sie waren blau, aber nicht dunkelblau wie das Meer, sondern Aquamarin, mit einem Stich ins Grüne. Sie waren ziemlich groß, und wenn man genau hinsah, konnte man winzige Goldtupfer am Rand der Iris erkennen. Ja, sie waren schön, sehr schön – würdige Exemplare für seine Sammlung.
Er seufzte zufrieden. Vorsichtig nahm er den Deckel von dem runden Glas ab, das in der Mitte des Bücherregals stand, und ließ seine Trophäen zu den anderen hineingleiten. Kommt zu mir, meine Hübschen, meine kleinen Juwelen, meine Fenster zur Seele.
Er hörte, wie sein Vater nebenan hustete. Schnell drehte Caleb den Deckel wieder auf das Gefäß und stellte es zurück ins Regal.
KAPITEL 53
»Oh Gott, Dr. Campbell, glauben Sie, dass mein Bruder dazu imstande ist, einen – einen Mord zu begehen?«
Charlotte Perkins stand vor dem Fenster und ließ resignierend die Hände sinken.
»Was glauben Sie?«, frage Lee, statt zu antworten.
»Bis vor Kurzem wäre meine Antwort Nein gewesen, aber ich hätte es ja auch nicht für möglich gehalten, dass er jemals das Abhängigkeitsverhältnis einer Patientin ausnutzen könnte.« Sie sah Lee flehentlich an. »Bevor Sie zu streng über uns urteilen, müssen Sie wissen, dass wir niemals vorhatten, Kinder zu zeugen. Jetzt sind wir natürlich zu alt dafür, aber es wäre niemals möglich gewesen.«
Lee verspürte keinerlei Bedarf nach weiteren Details.
»Wie Sie sehen, hat das, was wir taten – was wir einander waren – niemand anderem geschadet.«
»Was ist mit Ihnen? Hat es Ihnen geschadet?«
»Bisher habe ich immer alles geglaubt, was mein Bruder gesagt hat, aber nun …« Sie verstummte, als könnte sie es nicht ertragen, den Gedanken zu Ende zu denken.
»Was meinen Sie, warum ist Ihr Bruder mit Ana Watkins … intim geworden?«
»Das mag Ihnen vielleicht närrisch vorkommen, aber ich hatte schon längere Zeit einen Verdacht«, entgegnete sie. »Eines Tages dann, als ich während einer ihrer Sitzungen an dem Therapiezimmer vorbeiging, hörte ich –« Charlotte verstummte und versuchte die Tränen zurückzuhalten. »Ich hörte eindeutige Geräusche. Später, als die Therapiestunde vorüber war, trafen sich in der Eingangshalle unsere Blicke, und Ana warf mir ein triumphierendes kleines Lächeln zu, als wollte sie sagen: Siehst du, jetzt gehört er mir. Damals hasste ich sie dafür und tue es noch.«
»Wenn Sie sie hassen, warum kommen Sie dann zu mir und wollen helfen, ihren Mörder zu fassen?«
»Weil er andere Frauen töten wird, falls Sie ihn nicht schnappen. Das könnte ich mir nie verzeihen.«
»Selbst wenn sich herausstellt, dass Ihr Bruder der Mörder ist?«
»Ja.«
»Hassen Sie ihn auch?«
»Das habe ich versucht – Sie glauben nicht, wie sehr ich versucht habe, ihn zu hassen. Aber ich bin dazu nicht in der Lage – schwach und jämmerlich, wie ich nun einmal bin.«
»Sie sind weder schwach noch jämmerlich, Miss Perkins«, entgegnete Lee. »In Wahrheit sind Sie sehr mutig, dass Sie mich während eines solchen Sturmes aufsuchen, um mir das alles zu sagen.«
Sie ging hinüber zu dem Klavier, dessen lackiertes Holz im
Weitere Kostenlose Bücher