Wehe Dem, Der Gnade Sucht
dahintersteckte – niemand wusste das. Martin besaß eine Macht über sie, die sie sich nicht erklären konnte. Das ging über die reine Blutsverwandtschaft, die gemeinsame Vergangenheit und sogar über den Sex hinaus und hatte etwas Übernatürliches. Charlotte hatte oft versucht, diese Fessel abzustreifen, aber es war ihr nie gelungen. Martin war ihr Mesmer, ihr Rasputin, ihr Houdini.
Sie erreichte ihr Schlafzimmer, glitt hinein und schloss die Tür hinter sich. Dann entzündete sie eine Öllampe – ihr Bruder machte gewisse Zugeständnisse an die moderne Welt, aber elektrisches Licht gehörte nicht dazu – und ging zu ihrem Schminktisch. Sie setzte sich vor den kunstvoll geschliffenen Spiegel, lehnte sich nach vorne und spürte unter dem Tisch das, was sie dort versteckte. Ihre Finger schlossen sich um ein mit geschnitzten Ornamenten verziertes Holzkästchen. Charlottes Hände zitterten leicht, als sie es öffnete und ein bernsteinfarbenes Fläschchen herausnahm. Sie schüttelte die rotbraune Flüssigkeit darin leicht, dann träufelte sie sich eine kleine Menge davon auf die Zunge. Im warmen Licht der Öllampe funkelten die Tropfen wie Gold. Eins, zwei, drei Tropfen. Ihr Körper erkannte den bitteren Geschmack sofort und begann sich zu entspannen. Charlotte fühlte, wie die Flüssigkeit ihr die Kehle hinunterrann und ließ den Kopf nach hinten fallen. Ihr entfuhr ein leiser, genussvoller Seufzer.
Bevor sie das Fläschchen weglegte, studierte sie einen Moment das Etikett mit den von ihr handgeschriebenen, altmodischen Buchstaben. Sie war stolz auf ihr Werk und bedauerte nur, ihre Errungenschaft nicht mit Martin teilen zu können. Durch ihre Arbeit im Krankenhaus hatte sie Zugang zu den benötigten Stoffen. Nachdem sie ein paar Stunden mit der Lektüre von Texten über Kräuterkunde verbracht und in Chemielehrbüchern Formeln und Mengenangaben gefunden hatte, war der Rest nicht besonders schwer gewesen.
Charlotte legte das Fläschchen wieder zurück ins Versteck, öffnete ein Fenster – die Luft im Raum kam ihr auf einmal unerträglich stickig vor – und legte sich dann auf ihr Himmelbett mit seinen vier Pfosten. Das Laudanum begann rasch zu wirken, dafür sorgte schon der Alkohol in der selbst gemischten Tinktur. In Charlottes ganzem Körper breitete sich ein baumwollweiches Gefühl aus. Ihre Gedanken flossen ineinander, bis Charlottes Bewusstsein langsam davontrieb, und sie schließlich in der willkommenen Umarmung eines drogenseligen Schlafes versank. Sie schwelgte in Opiumträumen, in denen sie in einem großen Ballsaal mit dem gutaussehenden Dr. Campbell tanzte, während ihr Bruder mit vor Wut hochrotem Kopf zusah.
Plötzlich wurde Charlotte wieder wach. Sie wusste nicht, was sie geweckt hatte – war es ein Geräusch, ein fremder Geruch oder ein Windhauch, der durch das offene Fenster die Gardinen aufgebauscht hatte? Was auch immer es gewesen war, es hatte die Atmosphäre im Raum verändert – irgendetwas hatte sich verschoben.
Charlotte setzte sich mit vom Opium benebeltem Kopf auf. Die Droge machte es ihr schwer aufzustehen. Sie spürte weder Verwirrung noch Angst, als sich die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnete, und eine schlanke Gestalt in Weiß hereinkam. Im Rausch der Droge konnte Charlotte das Gesicht des Wesens nicht erkennen, obwohl sie es angestrengt versuchte. Plötzlich begriff sie, was vor sich ging: Das war ein Geist!
Die Prophezeiungen ihres Bruders hatten sich also erfüllt, und sie besaß auch die Gabe, mit den Toten zu sprechen! Charlotte hatte sich lange geschämt, weil sie anders als ihr Bruder nicht fühlte, dass sie die Wiedergeburten viel älterer Seelen waren. Nur er schien Zugang zu der Welt zu haben, die hinter dem Schleier lag, wie er es auszudrücken pflegte. Aber nun, dachte Charlotte froh, lüftet sich der Schleier auch für mich! Auch sie würde nun die Mysterien kennenlernen, die sie bisher nicht einmal vage wahrgenommen hatte.
Charlotte ging auf die weiße Gestalt zu und streckte ihr die Arme entgegen. Das Gespenst wich erschrocken zurück, und Charlotte fürchtete schon, es könnte wieder verschwinden. Sie wollte etwas sagen, aber durch das Laudanum war ihre Zunge schwer wie Blei. Charlotte brachte nur ein paar unverständliche Laute heraus.
Der Klang ihrer Stimme schien den Geist zu ängstigen und er – sie konnte jetzt deutlich sehen, dass es ein Mann war – ließ einen leisen Schreckenslaut hören.
Charlotte wollte ihm sagen, dass er keine Angst haben
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