Wehe Dem, Der Gnade Sucht
einfiel. »Haben Sie ein Handy?«
Sie schüttelte den Kopf. »Mein Bruder …«
»Nehmen Sie meins.« Er nahm das Handy vom Tisch im Flur und drückte es Charlotte in die Hand.
»Ich kann nicht …«
»Haben Sie schon mal eines benutzt?«
»Ja, im Krankenhaus.«
»Gut. Hier ist meine Festnetznummer«, erklärte er und zeigte ihr den Eintrag im Adressbuch. »Und hier die Handynummer von Detective Butts. Wenn Sie in Schwierigkeiten stecken, möchte ich, dass Sie uns anrufen.«
»Also gut – danke schön.« Charlotte zögerte und betrachtete das Handy in ihrer Hand. »Auf jeden Fall weiß Martin mehr über Ana Watkins, als er zugeben will. Mal sehen, ob ich noch mehr herausfinden kann.«
»Sie haben schon genug getan, Miss Perkins. Bitte versprechen Sie mir, sich nicht in Gefahr zu bringen.«
»Ich kann nur versprechen, mein Bestes zu tun. Der Rest liegt in Gottes Hand.«
»Wenn Ihnen Ihre eigene Sicherheit nicht am Herzen liegt, denken Sie daran, wie ich mich fühlen werde, falls Ihnen etwas zustößt.«
»Meinetwegen«, sagte sie und lächelte.
Und damit glitt Charlotte Perkins hinaus in die Nacht. Als Lee die Tür hinter ihr schloss, musste er daran denken, wie Ana gegangen war – und welch schreckliches Schicksal sie ereilt hatte. Er blickte aus dem Fenster und konnte Charlottes sich entfernende Gestalt erkennen. Sie wich den Pfützen auf dem Bürgersteig aus, während sie die Straße hinunter in Richtung Third Avenue eilte.
KAPITEL 54
Als Charlotte die Tür öffnete und das Foyer betrat, war es dunkel und still im Haus. Es hatte aufgehört zu regnen, aber sie konnte noch das gleichmäßige Tröpfeln von der Dachrinne hören. Charlotte nahm ihren Mantel ab und hängte ihn an den Bentwood-Kleiderhaken im Foyer, dann schnürte sie ihre weichen Halbstiefel aus Leder auf, die ganz feucht und voller Matsch waren. Martin würde es überhaupt nicht gefallen, wenn sie Flecken auf den teuren Orientteppich machte. In der Dunkelheit hatte sie auf dem Weg von der Bushaltestelle zum Haus den Pfützen nicht ausweichen können. Sie verstaute die Stiefeletten unten im Schuhschrank und schlich über den langen kastanienbraunen Läufer, der vom Eingang zum Flur führte. Ein kleiner Schauer überkam sie, als ihre Zehen in der dicken Wolle versanken – das fühlte sich so gut an, nachdem sie zwei Stunden lang mit nassen Füßen im Bus gesessen hatte.
Leise stieg sie die Treppe hoch und ging zu ihrem Zimmer, das am Ende des langen schmalen Ganges lag. Sie bewegte sich so lautlos wie eine Katze und schob ihre Füße über den Teppich, um nur ja nicht im Dunkeln zu stolpern. Es war nicht das erste Mal, dass sie sich nachts so ins Haus schlich. Um zu ihrem Zimmer zu gelangen, musste sie an dem ihres Bruders vorbei, und den wollte sie auf keinen Fall wecken.
Vorsichtig tastete sie sich an der Wand entlang, weil sie nichts sehen konnte. Als sie am Schlafzimmer ihres Bruders angelangt war, spürte sie etwas Feuchtes und Klebriges auf der Tapete. Es war zu dunkel, um zu erkennen, was es war, aber es fühlte sich an, als hätte jemand Pudding an der Wand verteilt. Sie nahm sich vor, das am Morgen gleich wegzuwischen – zweifellos war Martin irgendein Malheur passiert, und er erwartete natürlich, dass sie das sauber machte. Der Haushalt war ihre Aufgabe.
Als sie am Zimmer ihres Bruders vorbeiging, dachte sie noch, dass es im Haus wirklich gespenstisch still war. Die Tür stand halb offen, was ihr seltsam vorkam. Ein schmaler Streifen Mondlicht fiel durch den Türspalt auf den Boden vor Charlotte. Normalerweise hielt Martin seine Tür nachts geschlossen – vielleicht hatte er sie offen gelassen, weil Charlotte noch nicht nach Hause gekommen war. Morgen würde sie ihm das mit Überstunden im Krankenhaus erklären. Sie hatte sich extra eine Geschichte für ihn zurechtgelegt: Eine ihrer Patientinnen hatte Wehen bekommen. Es war eine schwierige Geburt geworden, und sie selbst hatte die halbe Nacht an der Seite der Mutter verbracht. Natürlich konnte Martin das ganz leicht überprüfen – das war durchaus schon vorgekommen –, also musste sie noch ihre Kolleginnen einweihen, damit die sie im Fall des Falles deckten. Das sollte nicht so schwer werden, denn das hatten sie bereits ein paarmal getan. Die meisten ihrer Kolleginnen hielten Martin für einen Tyrannen und Mistkerl und konnten nicht verstehen, warum Charlotte sich von ihrem Bruder so herumkommandieren ließ.
Aber ihre Kolleginnen wussten nicht, was wirklich
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