Wehe Dem, Der Gnade Sucht
gertenschlanke Figur eines Fotomodells hatte, würde sie mit Sicherheit ohne Probleme in Kathys Sachen passen.
Lee verschwand im Schlafzimmer und kam bald darauf mit den konservativsten Kleidungstücken wieder, die er finden konnte – einem langen Rock mit Blumenmuster und einer langärmeligen schwarzen Bluse. Er gab Charlotte die Sachen und zeigte ihr den Weg zum Badezimmer.
Als sie das Bad wieder verließ, war der Tee fertig. Lee hatte recht gehabt – Kathys Sachen passten ihr beinahe wie angegossen. Nur Charlottes lange Arme ragten aus den Ärmeln heraus, die ihr gerade einmal bis kurz unter die Ellbogen reichten. Lee nahm ihre nassen Sachen, brachte sie ins Bad und steckte sie in den Wäschetrockner. Als er zurückkehrte, hatte Charlotte auf dem Sofa Platz genommen und trank ihren Earl Grey. Lee fragte, warum sie hergekommen war.
»Bitte verzeihen Sie mir, aber das ist nicht einfach für mich«, begann sie.
»Lassen Sie sich Zeit.«
»Ich fürchte, mein Bruder ist nicht ganz aufrichtig zu Ihnen gewesen.«
»Ach?« Lee lehnte sich im Sessel zurück und versuchte, seine Ungeduld zu verbergen.
»Ja, ich – also, das ist so schwer. Verzeihen Sie mir. Ich stehe heute etwas neben mir.«
»Selbstverständlich. Soll ich Ihnen noch etwas Tee holen?«
»Ja, das wäre sehr nett«, antwortete Charlotte und trank hastig den letzen Schluck.
Lee nahm die Tasse und ging in die Küche. Als er zurückkehrte, stand Charlotte am Fenster und sah hinaus. Dann drehte sie sich um, und die Worte sprudelten aus ihr heraus, als fürchtete sie, sie könnte sonst daran ersticken.
»Mein Bruder und ich leben wie Mann und Frau zusammen.«
Lee wich einen Schritt zurück. Tee schwappte aus der Tasse und tropfte auf den Boden.
Er wollte etwas erwidern, aber alles, was ihm einfiel, schien im höchsten Maße unangemessen.
Charlotte ersparte ihm eine Antwort, indem sie fortfuhr. »Sie halten das wahrscheinlich für eine schreckliche Sünde.«
»Nein«, entfuhr es ihm. »Das tue ich nicht. Aber …«
»Aber es ist eine Sünde«, unterbrach sie ihn. »Jedenfalls sehe ich das so. Mein Bruder jedoch …« Sie rang nach Worten. »Für meinen Bruder ist das alles ganz normal – ja, sogar geradezu vorherbestimmt, wissen Sie?«
»Das verstehe ich nicht«, antwortete er. Die Tasse mit dem Tee befand sich immer noch in seiner Hand. Er stellte sie auf dem Sideboard ab.
Charlotte ging unruhig vor dem Fenster auf und ab. Aus irgendeinem Grund kam Lee plötzlich der Gedanke, dass sie dort ein leichtes Ziel abgab, falls jemand von draußen auf sie schoss. Er schob sich an ihr vorbei und zog die Vorhänge zu.
»Sie haben zweifellos bemerkt, dass unsere Kleidung auf gewisse Weise – altmodisch ist.«
»Das ist mir aufgefallen.«
»Dafür gibt es einen Grund. Es ist keine Marotte oder eine Mode, falls sie das gedacht haben. Mein Bruder glaubt, dass wir die Reinkarnationen eines Mannes und seiner Gemahlin sind, die vor über einhundert Jahren gelebt haben«, erzählte sie und rang dabei die Hände. »Und da unsere Seelen eigentlich die ihren sind, ist es nicht nur angemessen, sondern sogar notwendig, dass wir wie Mann und Frau zusammenleben.«
»Wer waren die beiden?«
»Das spielt dabei keine Rolle.«
»Ich verstehe. Seit wann ist er schon dieser Meinung?«
»Seit fünfzehn Jahren. Seitdem er damals das Geschenk erhielt.«
»Welches Geschenk?«
»Das Geschenk des Zweiten Gesichts – die Fähigkeit, durch die Schleier der Zeit zu sehen.«
»Ah ja. Und wie denken Sie darüber?«
»Im Moment weiß ich nicht, was ich denken soll. Ich habe immer geglaubt, dass mein Bruder der weiseste und ehrenhafteste aller Menschen ist, aber jetzt …«
»Ist etwas geschehen, das Ihre Meinung geändert hat?«
»Ich habe Ihnen erzählt, dass ich keinen Kontakt zu den Patienten meines Bruders hatte.«
»Ja.«
»Da war ich nicht ganz aufrichtig. Tatsächlich habe ich seinen Terminkalender gepflegt und die Patienten oft begrüßt.«
»Warum haben Sie uns angelogen?«
»Weil er es so wollte.«
»Warum?«
Sie sah Lee mit gequältem Blick an. »Ich weiß es nicht – als ich ihn danach fragte, sagte er, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern.«
»Woher diese Reaktion?«
Charlotte biss sich auf die Lippe, bis die zu bluten begann – offensichtlich kämpfte sie mit ihrem Gewissen.
»Weil …«, begann sie und musste sich die Worte förmlich abringen. »Ich bin sicher, dass er … Umgang … mit einer Patientin hatte.
»Und mit
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