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Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Titel: Wehe Dem, Der Gnade Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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Schein der Lampe schimmerte, und fuhr leicht über die Tasten. »Es gibt noch etwas, das ich Ihnen erzählen wollte«, sagte sie und wandte sich ihm wieder zu.
    »Und das wäre?«
    »Mein Bruder behandelt auch zwei Mal im Monat Patienten in einem staatlichen Krankenhaus in der Stadt. Das soll niemand wissen, weil es seinen Stolz verletzt, dass er nicht allein von seiner Praxis leben kann.«
    »Wo ist diese Klinik?«
    »Im St. Vincent’s, es ist die ambulante Station.«
    Bei diesen Worten erstarrte Lee für einen Moment.
    »Was denn?«, fragte sie. »Alles in Ordnung?«
    »Sicher, sicher.«
    »Sie kennen die Klinik?«
    »Ja.«
    Nach Lauras Verschwinden war Lee dort einen Monat lang Patient gewesen und hatte seine klinische Depression behandeln lassen.
    »Glauben Sie, dass einer von seinen Patienten dort gewalttätig sein könnte?«
    »Möglicherweise.«
    Charlotte sah ihn mit ängstlichem Blick an, die schmalen Lippen hatte sie zusammengepresst, und auf ihrer Stirn kräuselten sich Sorgenfalten.
    »Ich kümmere mich darum. Darf ich Sie etwas fragen?«
    »Selbstverständlich.«
    »In Anas Tagebuch gab es einen Eintrag, dass sie jemand zur Rede stellen wollte. Glauben Sie, damit könnte Ihr Bruder gemeint sein?«
    »Ich denke schon. Einmal, das war kurz nachdem ich bemerkt hatte, dass sie … zusammen waren … habe ich aus dem Therapiezimmer gehört, wie sie sich gestritten haben. Als Miss Watkins nach der Sitzung herauskam, sah ich, dass sie geweint hatte.«
    »Sie glauben also, sie wollte mit ihm Schluss machen?«
    »Vielleicht.«
    »Weiß Ihr Bruder, wo Sie gerade sind?«
    »Nein. Er denkt sicher, ich bin wegen des Sturms noch im Krankenhaus.«
    »Haben Sie jemanden, der Sie deckt, falls er anruft?«
    Charlotte lächelte traurig. »Mein Bruder ruft mich nie dort an. Er macht sich nicht viel aus dem Telefon – er betont gerne, dass es noch nicht erfunden war, als wir das erste Mal gelebt haben.«
    »Weiß abgesehen von Ihrem Bruder und Ihnen jemand von Ihrer … Beziehung?«
    »Ich habe immer angenommen, dass es niemand weiß. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Es ist durchaus vorstellbar, dass Ana Watkins Bescheid wusste – wenn man bedenkt, wie sie mich angelächelt hat, als sie an jenem Tag das Haus verließ.«
    »Glauben Sie, dass Ihr Bruder sie vielleicht umgebracht hat, um sie zum Schweigen zu bringen?«
    Charlotte erhob sich und begann im Raum auf und ab zu gehen.
    »Oh Gott, Dr. Campbell! Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich bete darum, dass es nicht so ist – ich bete inständig darum!«
    »Selbstverständlich können Sie nicht zurück nach Hause. Dort ist es viel zu gefährlich.«
    »Oh, aber ich muss heim. Wenn ich fortbleibe, wird er Verdacht schöpfen, und wer weiß, was er dann tut.«
    »Das ist unmöglich. Es ist mir egal, ob er Verdacht schöpft oder nicht.«
    Charlotte nahm seine Hände.
    »Dr. Campbell, Sie müssen mich dieses Spiel nach meinen Regeln spielen lassen.«
    »Wenn Sie darauf bestehen, nach Hause zurückzukehren, lassen Sie mich wenigstens einen Polizeibeamten zur Beobachtung des Hauses abstellen.«
    Zum ersten Mal, seit er sie kannte, lachte sie.
    »Mein Bruder ist ein sehr wachsamer Mensch. Er würde das sehr schnell bemerken.«
    »Ich kann Sie doch nicht …«
    »Sie können mich nicht aufhalten«, erklärte Charlotte entschieden. »Darf ich nun um meine Sachen bitten? Ich muss mich auf den Weg machen.«
    Einen Moment lang dachte Lee daran, ihre Sachen einfach nicht herauszurücken, damit sie bleiben musste. Aber er wusste, dass es hoffnungslos war. Sie würde in jedem Fall gehen, und wenn sie daheim in den Sachen einer Fremden auftauchte, würde ihr Bruder misstrauisch werden. Lee ging ins Bad, um Charlottes Sachen zu holen. Als sie wieder angezogen war, schnürte sie ihre merkwürdigen Stiefeletten und warf sich ihren Mantel über.
    »Lassen Sie mich Ihnen wenigstens einen Regenschirm mitgeben«, sagte Lee, zog die Vorhänge beiseite und sah aus dem Fenster. Es goss nicht mehr in Strömen, aber der Regen hatte noch nicht aufgehört.
    »Ich werde ihn im Bus zurücklassen müssen«, antwortete sie. »Mein Bruder würde sofort wissen, dass er nicht mir gehört.«
    »Gut – lassen Sie ihn im Bus liegen. Irgendjemand wird ihn schon gebrauchen können.« Lee reichte ihr seinen stabilsten Regenschirm.
    »Danke«, sagte sie und zog sich die Kapuze über den Kopf.
    »Nein, ich danke Ihnen. Sie haben uns enorm weitergeholfen. Warten Sie«, bat Lee, weil ihm noch etwas

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