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Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Titel: Wehe Dem, Der Gnade Sucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. E. Lawrence
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sollte, aber es klang wie »Duuh bauchst kai ahst hahm«.
    Jetzt war er nur noch zwei Schritte von ihr entfernt, und sie streckte wieder die Hand nach ihm aus. Zu ihrer Überraschung packte der Geist ihren Arm. Entsetzt stellte sie fest, dass er einen erstaunlich festen Griff hatte für eine Erscheinung. Und seine Haut war verblüffend warm. Charlotte wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber ganz sicher nicht das.
    Sie versuchte sich loszumachen, aber mit einem schnellen Ruck zog das Gespenst sie an sich und legte seine langen Arme um sie. Fast wollte Charlotte sich schon ergeben, doch dann siegte der Überlebenswille. Sie wehrte sich verzweifelt. Aber das Laudanum machte sie schwach und kampfunfähig. Ihr Aufbäumen war umsonst. Es war, als wollte man sich aus einer Galgenschlinge befreien – je stärker man zappelte, desto enger zog sie sich zu.
    Charlotte versuchte einen klaren Kopf zu bekommen, doch das gelang ihr nicht. Die Wirkung der Droge war noch zu stark. Immerhin spürte Charlotte dadurch wenigstens den Stich in ihrem Arm kaum. Vage erkannte sie, dass das Wesen in seiner freien Hand eine Spritze hielt. Was wohl ein Geist mit einer Spritze wollte? Charlottes Blick trübte sich, als das Gespenst sie hochhob und aus dem Raum trug.

KAPITEL 55
    Gleich nachdem Charlotte gegangen war, überfiel Lee der Depressionsanfall, gegen den er sich die ganze Zeit so sehr gewehrt hatte. Eine eiserne Faust legte sich um sein Herz, und Lee wäre am liebsten gestorben. Er sah aus dem Fenster. Ein erneuter Platzregen ergoss sich über die Stadt. Das gleichmäßige Trommeln der Tropfen gegen die Scheibe hätte beruhigend wirken können, aber Lee musste ständig an Kathy denken.
    Und wenn er an Kathy dachte, musste er auch an seine Schwester denken und an die Toten des Serienmörders. Sollte er über das Leid und die sinnlose Vergeudung von Leben zornig oder traurig sein? Lee versuchte, diese Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen, aber es klappte nicht.
    Es gab nur noch ein Mittel, das ihm in diesem Stadium helfen konnte: Bewegung bis zur völligen Erschöpfung. Wenn er jetzt laufen ging, sollte sein Körper zumindest vorübergehend mit Endorphinen überflutet werden. Lee ging zu seinem Schlafzimmerschrank, kramte die Laufschuhe unter einem Wäschesack hervor, und zog sich Jogginghose und eine Windjacke an. Er war fest entschlossen, so lange zu joggen, bis er nicht mehr konnte. Er rannte durch die dunklen Straßen des Village Richtung Westen, den Ufern des Hudson entgegen. Der Fluss war windgepeitscht, und seine Wellen schlugen an die hölzernen Piers, als Lee an ihnen vorbeijoggte. Er war der Einzige, der verrückt genug war, sich in solch einer Nacht auf die Straße zu wagen, aber er mochte die Einsamkeit und die Dunkelheit und den Regen, dessen diamantharte Tropfen ihm ins Gesicht peitschten. Die Fülle körperlicher Empfindungen beim Laufen stimulierte Lees Hormonausschüttung. Dagegen hatte die Depression keine Chance. Er spürte, wie sie von ihm abließ, sich verflüchtigte wie ein Geist, der sich zurück in seine Zauberflasche zog. Lee steigerte das Lauftempo noch einmal. Seine Füße trommelten auf das Pflaster und ließen das Wasser in den Pfützen nach allen Seiten spritzen. Während er lief, schwebten seltsame Gedankenfetzen durch sein Bewusstsein. Ein früheres Leben … Ein früheres Leben … Direkt vor ihm tauchte die Intrepid auf, still und beeindruckend lag sie an ihrem Ankerplatz, und die graue Kommandobrücke zeichnete sich dunkel gegen den Nachthimmel ab. Der Flugzeugträger wurde jetzt als Militärmuseum genutzt und zog das ganze Jahr über Massen von Besuchern an. Er änderte seine Richtung und rannte nach Süden, auf das Loch in der Erde zu, an dem einst das stolze Paar der Towers in den Himmel ragte. Ein früheres Leben, ein früheres Leben … Er spürte instinktiv die Gegenwart der Seelen, die hier umgekommen waren, als die Türme zusammenstürzten. In Nächten wie dieser kam es ihm vor, als leisteten sie ihm Gesellschaft, während er blinzelnd gegen den Sturm und den peitschenden Regen anlief.
    Ein früheres Leben, ein früheres Leben … das war alles, was diese Toten nun noch besaßen, nachdem sie religiösen Fanatikern zum Opfer gefallen waren. Lee lief weiter und dachte an Martin Perkins. War der auch ein religiöser Fanatiker? Das war schwer zu entscheiden. Mit Sicherheit war Perkins ein Exzentriker, aber war er deshalb gleich gefährlich? Es konnte durchaus sein, dass Lee die Antwort auf diese

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