Wehrlos: Thriller
größte Kummer mit einem starken Begehren einherging. War diese Gefühl echt oder nur ein Überlebensreflex? Ungewollt blieb ihr Blick an den breiten Schultern und dem Po des Reporters hängen. Da begriff sie, dass sie sich sehnsüchtig danach verzehrte, zu lieben und geliebt zu werden. Schließlich erhob sie sich, um ins Café zu gehen und auf Sacha zu warten.
KAPITEL SECHZEHN
Hannibal Reed – achtundsiebzig Jahre, hochgewachsen, welliges, weißes und sorgfältig nach hinten frisiertes Haar, glatter Schnurrbart unter einer Hakennase, stahlblaue Augen, gebräunte Haut – glich einem alten, gefährlichen Raubvogel. Er war sehr stolz auf seinen straffen Körper, den der Anzug von Yves Saint Laurent noch unterstrich, seine nicht nachlassenden geistigen Fähigkeiten und vor allem auf seinen Trust mit zweihundert äußerst einträglichen Firmen – eines der größten Industrieimperien Amerikas. In Hannibal Reeds Welt bedeutete jeder neue Tag neue Dollars, die mit allen Mitteln oder Strategien eingefahren wurden. Handeln und siegen, war seine Maxime.
Reed Industries besaß die gesamte obere Hälfte eines Wolkenkratzers, eines achtunddreißigstöckigen Gebäudes aus Glas im Geschäftszentrum von Atlanta. Die Eingangshalle befand sich in der siebenundzwanzigsten Etage, wo goldene Lettern, unter denen drei Empfangshostessen saßen, den Besucher darüber informierten, dass er das Reed-Imperium betrat. Der teure dicke Teppichboden, das erlesene Designermobiliar, die perfekte Schallisolation und die abstrakten Gemälde sollten den Eintretenden beeindrucken.
An diesem Augustmorgen, an dem das Thermometer fast fünfunddreißig Grad erreichte, stand Reed, die Hände auf dem Rücken verschränkt, an der Fensterfront seines Büros und betrachtete die Stadt zu seinen Füßen. Er sah die Sonne, die sich in den Facetten der Buildings brach, und dachte an die Solaïa-Kommission, die Reed Industries zum größten amerikanischen Solarenergieproduzenten machen würde.
Nachdem er wie sein Vater auf Erdöl und dessen Derivate gesetzt hatte, hatte Reed begriffen, dass sich mit der Sonnenenergie eine goldgepflasterte Straße vor ihm auftat. Eine enorme Einnahmequelle, die nur auf ihn gewartet hatte. Am 2. September sollte alles glatt laufen. Der alte Fuchs knirschte mit den Zähnen und wandte den Blick von dem Panorama zu seinem Smartphone. Er wählte eine Nummer, und die Videoverbindung wurde aufgebaut. Das kantige Gesicht eines Mannes erschien auf dem Display. Sie begrüßten sich.
»Guten Morgen. Wie geht’s?«, fragte Reed.
»Danke, gut. Und dir? Was macht dein Rücken?«
»Alles in Ordnung, deine Tabletten haben gut geholfen.«
»Ich schicke dir noch welche.«
»Schön. Ist unser Problem geregelt?«, wollte der alte Reed wissen.
»Nein«, erklärte der Mann am anderen Ende der Leitung mürrisch.
»Warum nicht?«, knurrte Reed.
Das Gespräch verlief wie zwischen zwei bösartigen Hunden.
»Von unserem Informanten habe ich erfahren, dass die Schnüfflerin sich wieder ans Werk gemacht hat«, klagte der Mann.
»Ist sie noch immer nicht außer Gefecht gesetzt?«
»Nein. Sie hat sich mit einem Journalisten zusammengetan.«
Hannibal Reeds Mundwinkel verzogen sich nach unten.
»Kann sie sich nicht um ihren Balg kümmern, statt uns zu nerven? Welcher Journalist?«
»Einer dieser Schmierfinken, der für eine Presseagentur arbeitet.«
»Mach, was du willst, aber stopf ihr das Maul, ehe sie uns was am Zeug flicken kann.«
Aus Reeds Mund war das sowohl eine Feststellung als auch ein Befehl.
»Ich weiß. Wir werden Plan B fahren, wie wir es besprochen haben.«
»Tu, was zu tun ist. Details interessieren mich nicht.«
Hannibal Reed beendete das Gespräch, und das Bild auf dem Display verschwand. Plötzlich überkam ihn Wut, eine kalte, effiziente Wut, die nach einer Lösung verlangte.
Es klopfte leise an der Tür. Millicent trat ein. Der Industrielle verzog das Gesicht zu einer Art Lächeln. Reeds einzige Tochter trug einen teuren schwarzen Chanel-Hosenanzug, dazu eine Seidenbluse und hatte das blonde Haar brav mit einer goldenen Spange zusammengehalten. Ihr längliches Gesicht, das manche als wenig hübsch empfanden, wurde von sanften, großen Augen belebt, die mandelförmig und äußerst ausdrucksvoll waren. Nachdem sie mit dreiundzwanzig Jahren im Juli ihr Studium abgeschlossen hatte, war sie nun in den Schoß der Familie zurückgekehrt. Der Vertrag mit ihrem Vater – ein Master in Umweltrecht in Harvard – war
Weitere Kostenlose Bücher