Wehrlos: Thriller
gegenüberliegenden Ufer war deutlich die schwedische Küste zu erkennen. Boote mit geblähten Segeln glitten stolz dahin. Eine brechend volle Fähre erreichte soeben das offene Meer. Rachel atmete tief durch, um ihre Lungen zu weiten. Alles erschien ihr jetzt noch schöner und lebendiger als sonst. Sie fühlte sich unbesiegbar, stark und voller Liebe zum Leben.
»Wohin fährt das große Schiff, Mama?«, wollte Sacha wissen und deutete auf die Fähre.
»Nach Schweden, zu Pippi Langstrumpf!«
Pippi Langstrumpf , das Kinderbuch der Schwedin Astrid Lindgren, war ein Lieblingsbuch von Rachel, das sie Sacha Anfang des Sommers vorzulesen begonnen hatte. Pippi war ein Vorbild an Selbstvertrauen. Ein außergewöhnliches kleines Mädchen, das allein in einem großen Haus lebte und von niemandem abhängig war, da sie über einen Koffer voller Goldstücke verfügte. Sie hatte mit ihrem Papa, Kapitän seines Zeichens, alle Weltmeere befahren, besaß unglaubliche Kraft, aber auch grenzenlose Phantasie, Kreativität und Lebensfreude, die jedes ihrer Abenteuer in eine wahre Freiheitslektion verwandelte.
»Der Papa von Pippi ist Kapitän wie Opa, stimmt’s?«
»Ja, mein Liebling.«
Mutter und Sohn begannen ein Gespräch über Meer, Schiffe, Kapitäne auf großer Fahrt und verborgene Schätze, während das Taxi wieder anfuhr, um sie nach Hause zu bringen. Es war ein guter Moment.
Allerdings war der Frieden nicht von langer Dauer.
In Ø restad angekommen, meldete Rachels Handy eine neue Nachricht. Als sie diese las, spannten sich ihre Gesichtszüge an. Die Nachricht von RR 21 war eindeutig:
Die probiern es wieder, bist in Gefar
■ ■ ■
Das Taxi setzte sie am Rand ihres Stadtteils in einer Seitenstraße des Ø restads Boulevard ab. Rachel war so verwirrt, dass es ihr erst beim zweiten Versuch gelang, den Rollstuhl des Kleinen aufzuklappen. Sie hängte ihre Reisetaschen daran, setzte Sacha trotz ihrer schmerzenden Muskeln hinein und schob anschließend ihre wertvolle Fracht vor sich her. Verflixt noch mal, so leicht lasse ich mich nicht beeindrucken . Trotzdem warf sie einen argwöhnischen Blick hinter sich, als sie den Wohnblock betrat.
Ø restad war eines der ambitioniertesten dänischen Vorhaben in puncto Städteplanung. In Ø restad-Nord, dem ersten Viertel dieses großräumigen Projekts, wurde eine neue Lebensweise getestet: umweltschonend dank nachhaltig gebauter Wohnungen, bildungs- und kulturorientiert mit zwei Universitäten, einem neuen Konzertsaal und der Ansiedlung des dänischen Rundfunks, jedoch auch dynamisch mit Büros, Großfirmen, Einkaufszentren und einem Messegelände.
Rachel und Sacha wohnten in einem dieser neuen Häuser. Auf den ersten Blick hatte die Siedlung nichts Außergewöhnliches. Zwei lang gestreckte Häuserzeilen aus Stahl und Glas mit Wohnungen, die über Außenflure erreichbar waren, standen sich auf einer Wiese gegenüber, die so groß wie ein Fußballfeld war. Erst beim Näherkommen erkannte man die Originalität der Anlage.
Der im Jahr 2000 gebaute Stadtteil hatte das ehrgeizige Ziel, richtungweisend für eine nachhaltige urbane Entwicklung zu sein. In Dächer, Fassaden und Gänge waren Sonnenkollektoren integriert. Die Wohnungen verfügten über individuelle Wärmespeicher und Strahlungsheizungen im Deckenbereich. Für jede Wohnung wurde der Energieverbrauch durch Einzelzähler gemessen. Im Untergeschoss der beiden Blöcke standen den Bewohnern nicht weniger als ein Dutzend Container für die Mülltrennung zur Verfügung: für Glas, Kunststoff, Zeitungen, Kartons, aber auch Altkleider, Arzneimittel, Farben, Säuren, Putzmittel, Biomüll und so weiter. Zudem wurde das Regenwasser für die Toilettenspülungen gesammelt, und für die Zukunft war geplant, die Fassaden zu begrünen und die Raumluft durch Grünpflanzen zu verbessern.
Rachel war glücklich, wieder in ihrem Stadtteil zu sein, und stolz, dass ein solches Projekt existierte und sie daran teilhaben konnte. Sie schob den Rollstuhl über die Rampe in den Aufzug und drückte den Knopf für die dritte Etage. Was sie am meisten schätzte, war die Einbeziehung der Bewohner in Konzeption, Renovierung und Instandhaltung der Einrichtungen. Durch deren Initiative hatte sich die von Radwegen durchzogene Grünfläche nach und nach in ein einladendes Freizeitareal verwandelt, mit Spielplätzen, Picknicktischen und Grillvorrichtungen, wo man sich traf und austauschte. Auch wenn noch ein weiter Weg vor ihnen lag, entsprach dieser Ort
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