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Wehrlos: Thriller

Wehrlos: Thriller

Titel: Wehrlos: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elena Sender
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ihrem Text und ihrem Stift, während Sacha vorgebeugt mit seinem Gameboy spielte. »Sacha Karlsen!«, rief die Krankenschwester. Rachel steckte eilig ihre Unterlagen in den Rucksack und schob Sachas Rollstuhl zum Büro des Professors.
    Hansen bat sie herein und schüttelte ihr und Sacha die Hand. »Guten Tag, junger Mann!«, rief er, ehe er sich nach Rachels Gesundheitszustand erkundigte. Sie hatte ihn seit mindestens vier oder fünf Monaten nicht mehr gesehen. Doch jedes Mal, wenn sie ihn traf, sagte sie sich wieder: Was für ein netter, sympathischer Mann! Er war mittelgroß, hatte weiches, grau meliertes Haar, eine graue Brille und eine so sanfte Stimme, dass man ihn manchmal bitten musste, das Gesagte zu wiederholen. Und er neigte etwas zur Leibesfülle, was Sacha zu dem Kommentar veranlasste: »Er sieht aus wie der gute Doktor Dodu« – der Held eines seiner Kinderbücher. Es war schwer, sich vorzustellen, dass dieser sanfte und liebenswürdige Mann, der so bescheiden war, zu den bekanntesten neuropädiatrischen Professoren des Landes zählte.
    Mit dem Untersuchungstisch, den Anatomiepostern und der »Ego-Wand« mit all seinen Diplomen, Auszeichnungen und Fotos in Gesellschaft berühmter Persönlichkeiten unterschied sich seine Praxis nicht wesentlich von anderen. Außer dass sie von Giraffen in allen Formen bevölkert war. Poster, Plüschtiere auf den Regalen, Figuren und Statuen zwischen den medizinischen Werken, Bauklötze, Bälle und sogar eine Legofigur. Ebenso viele Exemplare wie dankbare Eltern. Der Beitrag der Karlsens, eine kleine Giraffe mit ihrem Jungen vom WWF , stand in einem Vitrinenschrank. Sacha griff nach einem Giraffendomino und legte die Steine aneinander. Hansen nahm zwei Seiten aus einer Akte.
    »Am 21. August haben wir ein Elektromyogramm gemacht, hier sind die Ergebnisse.«
    Beim Elektromyogramm wurde die Muskel- und Nervenaktivität durch auf der Haut platzierte Elektroden aufgezeichnet. Hansen legte ein anderes Diagramm auf den Tisch.
    »Und hier zum Vergleich die letztjährigen Ergebnisse. Anhand dieser Untersuchung kann man Veränderungen an den Nervensträngen feststellen.«
    Ehrlich gesagt, hatte Rachel Mühe, einen Unterschied zwischen den beiden Kurven zu sehen.
    »Das ist sehr schwierig«, gab der Professor zu, »aber man sieht, dass der Ausschlag der Nervenaktivität höher ist als bei der letzten Untersuchung. Daraus kann man entnehmen, dass es vermutlich zu einer Rekolonisierung der Nerven in den unteren Gliedmaßen gekommen ist.«
    Rachel riss die Augen auf. »Die Nerven sind wieder gewachsen?«
    »Oder haben sich verstärkt, ja.«
    Rachel spürte, wie ihr Herz schneller schlug. »Kommt so was häufiger bei solchen Fällen vor?«
    »Ich erlebe so etwas zum ersten Mal«, musste Hansen zugeben.
    »Und glauben Sie, dass sich diese Tendenz noch verstärken kann?«
    »Was das Gehirn betrifft, hat man bei schweren Hirntraumata schon ähnliche Reaktionen beobachtet, warum also nicht auch beim Rückenmark?«, antwortete Hansen ausweichend. »Ich kann Ihnen im Moment zu der weiteren Entwicklung nichts sagen.«
    Das Klingeln des Telefons unterbrach Hansen. Er hob ab und tauschte sich kurz mit einem Kollegen über einen Patienten aus. Rachel beobachtete Sacha, der eine Spieldose geöffnet hatte, in der sich eine kleine Giraffe im Ballettröckchen im Kreis drehte. Rachel erinnerte sich genau an die ersten Erklärungen des Professors nach Sachas Geburt …
    »Das Rückenmark verbindet den Körper mit dem Gehirn«, hatte er ihr mit seiner sanften Stimme dargelegt. »Alle motorischen Impulse gehen vom Gehirn über das Rückenmark, ehe sie die Muskeln erreichen. Ebenso geben die sensorischen Organe ihre Signale zunächst ans Rückenmark ab, ehe sie an das Gehirn weitergeleitet werden. Eine Schädigung des Rückenmarks verhindert also bei dem Patienten jegliche Muskelaktivität und jedes körperliche Empfinden.«
    »Ich habe gelesen, dass sich in manchen Fällen nach einer Verletzung durch einen Unfall das Rückenmark wieder konsolidieren kann«, hatte Rachel eingeworfen.
    »Nach einem Unfall ist das Rückenmark nur in einem von drei Fällen vollständig geschädigt. Bei den anderen handelt es sich um einen Teilschaden, bei dem bestimmte Nervenstränge noch existent sind und stimuliert werden können. Diese Kompensation durch Expansion bezeichnet man als Plastizität.«
    »Und sind bei Sacha die Nerven vollständig unterbrochen?«
    »Nein, nur teilweise.«
    »Dann können sie also durch

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