Wehrlos: Thriller
verschüchtert den letzten Bissen seines Brotes hinunter und senkte den Blick.
»Ich glaube, wir kennen uns bereits«, meinte Kirsten, während sie ihre Sporttasche neben dem Sofa abstellte.
»Wirklich?«, fragte Rachel verwundert.
»Ja«, antwortete Kirsten, an Sacha gewandt, »wir sind uns ein paarmal im Krankenhaus auf der Rehastation begegnet. Erinnerst du dich?«
»Also, ich weiß nicht …«, erwiderte Rachel.
»Seine Oma war mit ihm da.«
Kirsten sagte das sehr bestimmt und in einem nicht besonders freundlichen Ton, wie Rachel fand. Sie nahm die Bemerkung der Physiotherapeutin persönlich. Sie hätte auf diese unnötige Spitze gern irgendetwas entgegnet, etwa dass sie alleinerziehend sei und daher viel arbeiten müsse, doch sie ließ es bleiben. Das einzig Wichtige war, dass Sacha gut behandelt wurde und seine Therapie bekam. Sie wischte ihrem Sohn noch schnell den Mund ab, löste den Gurt an seinem Stuhl und trug ihn in eine Ecke des Wohnzimmers, wo sie ihn aufs Parkett setzte.
Kirsten rollte vor ihnen eine blaue Gymnastikmatte aus, auf der ein kleiner Bär putzig herumturnte, und wandte sich wieder an Sacha.
»Hier zu Hause werden wir viele Übungen machen, die deine Muskeln stärken sollen. In der Klinik machen wir dann die gleichen Übungen, aber an großen Geräten. Einverstanden?«
Sacha erwiderte nichts.
»Aber jetzt zeig mir erst einmal, was du kannst. Kommst du zu mir?«
Sacha rutschte auf den Knien auf sie zu.
»Wenn man ihn hält, kann er stehen«, erklärte Rachel, die sich auf die Sofalehne gesetzt hatte. »Die große Neuigkeit ist, dass er es schafft, zwei Schritte zu gehen.«
Kirsten warf ihr einen autoritären Blick zu.
»Das soll Sacha uns selbst sagen, nicht wahr, kleiner Mann?«
Rachel verzog das Gesicht. Kirsten hockte sich hinter den Jungen. Dabei verrutschte der Gummizug ihrer Jogginghose und offenbarte ein Maori-Tattoo in der Nierengegend. Sie griff unter seine Achseln und half ihm, sich aufzurichten. Sacha schwankte auf seinen schwachen Beinchen.
»Machst du bitte einen Schritt?«
Sacha hob sein rechtes Bein, das eine Tonne zu wiegen schien, und ließ es ein paar Zentimeter weiter wieder auf den Boden sinken. Angespannt knabberte Rachel an ihren Nägeln. Nun hob Sacha sein linkes Bein, das deutlich schwerer zu sein schien als das rechte, und setzte es schwerfällig ab – wie einen Sack Blei. In einem Alter, in dem andere Jungen fröhlich herumliefen und hüpfend Fangen spielten, schwitzte ihr Kind schon vor Anstrengung nur bei dem Versuch, seine Beine hochzuheben. Die Ungerechtigkeit der Situation wurde ihr erneut bewusst. Doch gleichzeitig musste Rachel zugeben, dass Sacha noch nie so große Fortschritte gemacht hatte.
»Ich bin viel zu müde«, grummelte der kleine Junge und schob die Unterlippe vor.
Rachel ahnte, dass er gleich anfangen würde zu weinen. Wenn sie diese Reaktion kommen sah, gab sie häufig auf oder lenkte ihn ab, bevor es Tränen oder Geschrei gab. Doch Kirsten ließ auch jetzt nicht locker.
»Natürlich, wie jeder große Sportler bist du nach einer solchen Leistung erschöpft! Das ist normal. Komm, mach weiter, noch vier Schritte, und dann hören wir auf.«
Sacha biss die Zähne zusammen und mühte sich eifrig, langsam voranzukommen, wobei sein kleines Kinn entschlossen und nicht mehr weinerlich wirkte. Kirsten zählte so lange, bis er fünf Schritte geschafft hatte, dann setzte sie den Jungen auf den Boden und lobte ihn. Sacha schnappte sich sofort ein Feuerwehrauto aus Holz und schob es – die Motorengeräusche imitierend – über den Boden. Kirsten blieb hocken und beobachtete ihn wortlos bei seinem Spiel. Ihr Gesicht war ein einziges großes Fragezeichen. Rachel wollte wissen, was los war.
»Gibt es ein Problem?«, erkundigte sie sich besorgt.
Kirsten stützte die Ellenbogen auf die Knie und verschränkte ihre durchtrainierten Arme.
»Er hat unglaubliche Fortschritte gemacht … so etwas habe ich noch nie gesehen.«
Es hörte sich an, als habe sie zu sich selbst gesprochen. Erst dann schien sie sich daran zu erinnern, dass die Mutter des Kindes neben ihr saß.
»Das letzte Mal, als ich ihn bei der Reha gesehen habe, konnte er sich kaum auf den Beinen halten. Die Entwicklung ist enorm. Wie erklärt sich Professor Hansen diesen Schub?«, wandte sie sich fragend an die Mutter.
»Gar nicht.«
Nachdenklich sah Kirsten zu dem kleinen Jungen hinüber, der noch immer mit dem Feuerwehrauto spielte.
»Ich behandele zwei weitere
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