Wehrlos: Thriller
Spina-bifida-Fälle. Auch wenn es gelingt, die Körperspannung ein wenig zu verbessern, habe ich trotzdem nie einen derartigen Fortschritt gesehen. Es ist einfach verblüffend!«
Zweifelnd sah Kirsten zu Rachel hinüber. »Und er hat ganz sicher keine andere Behandlung bekommen?«
»Nein.«
»Es ist einfach nicht zu fassen.«
Die Physiotherapeutin krabbelte auf allen vieren zu Sacha. »Komm, mein Held, wir machen weiter.«
In den folgenden fünfundzwanzig Minuten ließ Kirsten den Kleinen verschiedene Kräftigungsübungen machen, bei denen er sich beugen und strecken musste, und andere zur Stärkung der Bein-, Po- und Rückenmuskulatur. Anschließend holte sie aus ihrer Sporttasche ein elastisches Fitnessband mit Griffen, das er versuchen musste auseinanderzuziehen, um seine Brust zu dehnen. Die nächste Aufgabe, die der Stärkung der Bauchmuskulatur diente, bestand darin, sich auf eine kreisrunde, leicht erhöhte, aber weiche Silikonhalbkugel zu setzen. Auf diesem sogenannten Balance Board musste er nun versuchen, Bilder in die Luft zu malen, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren. Mit diesen abwechslungsreichen Übungen versuchte sie, die Aufmerksamkeit des Kleinen wachzuhalten, dem die Spiele im Übrigen zu gefallen schienen. Zum Schluss holte sie zwei Kinderhanteln aus ihrer Sporttasche.
»Das hier«, sagte sie, »ist wirklich nur was für echte Sportler. Wenn du damit trainierst, bekommst du Muskeln wie Superman.«
Sacha klatschte begeistert in die Hände. Kirsten verstand es, seinen Elan so zu steuern, dass er die Gewichte auch ein paarmal richtig hob und senkte. Seine kleinen Bizepse spannten sich im Rhythmus an, während die Trainerin laut und deutlich mitzählte.
Rachel, die sich im Hintergrund hielt, sagte während der ganzen Zeit kein einziges Wort und beobachtete fasziniert die Fitnessvorstellung, die ihr der kleine Junge bot. Als sie ihn so gewissenhaft und fleißig mit der Physiotherapeutin üben sah, erschien ihr Sacha plötzlich in einem ganz anderen Licht. Nicht nur, dass der Junge die Übungen, die Kirsten ihm gezeigt hatte, nachzumachen verstand, sondern sie entdeckte auch, dass er beharrlich und gerne bei der Sache blieb. In seinem Blick bemerkte sie eine beinahe erwachsene Entschlossenheit, die sie noch nie bei ihm gesehen hatte. Eine Anwandlung von Stolz überkam sie. Er nimmt sein Leben in die Hand und will sich selbst übertreffen, er ist einfach unglaublich. Als sie merkte, wie spät es schon war, verließ sie nur ungern ihren Beobachtungsposten, um die Schulsachen zu packen.
KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG
Peter saß allein in seinem Büro und korrigierte Rachels Bericht gegen Reed Industries. Seine mit einem dünnen grünen Filzstift geschriebenen Anmerkungen verteilten sich über die Seiten. Der Leiter von Green Growth unterstrich abschließend noch ein paar Wörter oder Wendungen, die ihm unpassend erschienen, und machte hier und da am Rand ein Fragezeichen. Als Rachel ins Büro kam, hatte er den Text fast fertig überarbeitet. Rachel setzte sich still vor ihn hin und war beinahe genauso nervös wie eine Studentin vor dem Prüfungsausschuss.
Nach der Physiotherapie hatte sie Sacha zur Schule gebracht und war anschließend mit dem Fahrrad nach Christianshavn weitergefahren. Während sie auf der nach dem nächtlichen Gewitter noch nassen Straße dahinradelte, dachte sie über die Reha ihres Sohnes und den neuen Lebensabschnitt nach, der damit für sie beide begann. Der Morgen würde von nun an von Kirsten Sörensens regelmäßigen Besuchen bestimmt sein, die ihre Übungen unnachgiebig und energisch durchführte, und von Sacha, der begeistert mitmachte und nach und nach an Autonomie gewinnen würde. Rachel mochte die Frau zwar nicht sonderlich, musste aber anerkennen, dass sie das Talent hatte, ihren Sohn zu motivieren, der, ohne zu murren, ihren Anweisungen folgte.
Rachel fuhr durch eine Pfütze, und das Wasser spritzte ihre Turnschuhe und den unteren Teil der Jeans nass. Eine Frage beschäftigte sie noch. Warum hatte ihr Sohn so lange auf eine solche Rehamaßnahme warten müssen? Doch eigentlich wusste sie die Antwort. Zuvor hatte es nicht den geringsten Hoffnungsschimmer oder überhaupt eine Aussicht auf Besserung gegeben. Und erst in diesem Moment realisierte sie, dass sie selbst sich bereits mit Sachas Schicksal abgefunden hatte. Doch nicht nur sie, sondern alle, auch Hansen, Christa, vielleicht sogar Sacha selbst. Diese Erkenntnis erschütterte sie.
Als sie über die Brücke von
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