Wehrlos vor Verlangen
Vantage Investments sich gegen den Aufkauf entschied, wusste sie nicht, was mit dem Betrieb geschehen würde. Dreißig Jahre hatte ihr Vater dem Aufbau seiner Firma gewidmet.
Während sie ihr Haar zu einem lockeren Knoten auf dem Kopf aufsteckte und ein dezentes Make-up auflegte, nahm sie sich vor, heute mehr über die aktuelle geschäftliche Lage herauszufinden.
Die Maisonne strömte durch die Fenster. Es war bereits warm genug, um sich sommerlich zu kleiden. Das hellgraue Kostüm war zwar schon alt, aber aufgrund der finanziellen Situation stand eine neue Garderobe außer Frage. Tahlia war froh, dass sie sich immer für zeitlose klassische Sachen entschieden hatte und nicht mit jeder Mode gegangen war. Das Kostüm sah noch immer elegant aus. Sie warf einen letzten prüfenden Blick in ihre Handtasche, schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass der alte Mini Cooper ansprang, nahm ihre Schlüssel und eilte zur Wohnung hinaus.
Erstaunt sah Tahlia den Wagen ihres Vaters auf dem Parkplatz von Reynolds Gems stehen. Mit schnellen Schritten stieg sie die Treppe zum Büro hinauf. „Ich hatte heute gar nicht mit dir gerechnet“, begrüßte sie ihn. Ihr Lächeln erstarb, als sie die ernste Miene ihres Vaters sah. „Was ist? So früh kann das Krankenhaus sich doch noch nicht gemeldet haben, oder?“
„Nein“, beruhigte Peter Reynolds sie. „Der Termin ist immer noch um halb zwölf. Aber Vantage Investments hat heute Morgen angerufen. Sie haben das Treffen von Mittwoch auf heute um zwölf verlegt.“
„Aber heute ist es unmöglich. Hast du nicht gefragt, ob ihr euch morgen treffen könnt?“
„Doch, natürlich. Aber sie haben gesagt, entweder heute oder gar nicht“, antwortete ihr Vater geknickt.
„Du musst mit Mum in die Klinik“, drängte Tahlia. „Nichts ist wichtiger als ihr Termin bei Dr. Rivers. Lässt sich der Termin in der Klinik vielleicht verschieben?“
„Das habe ich schon versucht, aber er fliegt heute Nachmittag zu einer Konferenz.“ Peter seufzte. „Ich mute es dir nur ungern zu, Tahlia, aber ich habe Steven Holt von Vantage das Treffen für heute zugesagt. Er weiß aber, dass nur einer der Direktoren anwesend sein wird. Es ist ja auch nur eine erste Zusammenkunft, aber es klang, als wären sie ernsthaft an dem Deal interessiert. Wenn die Verhandlungen beginnen, werde ich natürlich dabei sein, aber heute wirst du wohl allein hingehen müssen. Schaffst du das?“
„Natürlich schaffe ich das“, versicherte sie sofort. Seit der Krebsdiagnose ihrer Mutter schien ihr Vater um zehn Jahre gealtert zu sein. Sie würde alles tun, um ihm etwas von dem Stress abzunehmen. „Ich werde mir die Bilanzen durchlesen und mein Bestes geben, um Vantage davon zu überzeugen, Reynolds Gems zu kaufen. Geh du ruhig nach Hause, Mum braucht dich jetzt.“ Sie kaute an ihrer Lippe. „Aber du rufst mich an, sobald ihr Neuigkeiten habt, ja?“
„Auf jeden Fall“, versprach ihr Vater. „Alle Unterlagen liegen auf meinem Schreibtisch“, fügte er noch zerstreut hinzu, bevor er das Büro verließ. Tahlia wusste, dass er mit seinen Gedanken längst bei seiner Frau war.
Zwei Stunden später legte Tahlia die Akten ab, die die finanzielle Situation des Betriebs umrissen. Ihr Kaffee war kalt geworden. Sie verzog das Gesicht, als sie daran nippte. Nur noch ein Wunder konnte Reynolds Gems retten. Schon seit mehreren Jahren war der Gewinn immer weiter geschrumpft. Trotzdem hatte ihr Vater einen hohen Kredit aufgenommen, um die drei Geschäfte aufwendig zu renovieren.
Nun verlangte die Bank den Kredit zurück, und aus den Bilanzen ging klar hervor, dass Reynolds Gems die Mittel fehlten, um den Kredit zurückzuzahlen. Aus der Korrespondenz wurde auch deutlich, dass ihr Vater bei mehreren Banken um eine Finanzierung gebeten hatte. Doch wegen der weltweiten Finanzkrise war niemand daran interessiert, einen Betrieb mit rückläufigem Gewinn zu retten.
Wenn es Tahlia nicht gelang, Vantage zu überzeugen, wäre das das Ende für Reynolds Gems. Die Verantwortung lag schwer auf ihren Schultern, als sie mit Aktenkoffer, Handtasche und einem mulmigen Gefühl im Magen zum Büro hinausmarschierte.
Das Bürogebäude von Vantage Investments lag in der Innenstadt. Da Tahlia wusste, dass es praktisch unmöglich sein würde, einen Parkplatz zu finden, fuhr sie mit der U-Bahn. Sie kam viel zu früh an und musste zwanzig nervenzerrüttende Minuten überbrücken, bevor sie schließlich durch eine Glastür in das luxuriöse Foyer schritt.
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