Weiberabend: Roman (German Edition)
unterhalten können«. Am selben Nachmittag bekam ich zehn Minuten lang in einer Art Vorwort zu hören, was für ein »nettes, lebhaftes, kluges und selbstbewusstes« Kind er doch sei; das wirkte auf meine Nerven nur wie ein Trommelwirbel, und tatsächlich, dann kam es – er hänselt andere Kinder, stichelt gegen die weniger Selbstbewussten, und »weidet sich an ihrem Leid«. Ich muss scharlachrot geworden sein. Ich habe mir angehört, wie Gretchen seine Unverschämtheit schilderte, seine Wutausbrüche, sein jähzorniges Temperament und seine gemeine Art, und plötzlich entfuhr es mir: »Genauso behandelt er mich auch.«
»Tja, dann schikaniert er auch Sie«, sagte Gretchen. »Also, wer ist der Boss – Sie oder Ihr vierjähriger Sohn?«
Als sie es so in Worte fasste, brauchte ich auf diese demütigende Erkenntnis unbedingt ein Gefühl entschlossener Stärke. Also behauptete ich entschieden: »Ich natürlich.« Aber die Wahrheit wäre ein gequiektes »Mein vierjähriger Sohn« gewesen.
»Hast du schon versucht, Nathan glutenfrei zu ernähren?«, schlägt Tam Helen vor, als sie mit einem großen Glas – ist das zu fassen? – Wasser aus der Küche kommt.
»Ich habe versucht, Zucker und Fett wegzulassen, aber wisst ihr, wie viele Lebensmittel verstecktes Fett oder Zucker enthalten? Er fühlt sich so elend. Er vermisst ja nicht nur das Eis, die Schokolade und die Chips. Er darf auch viele angeblich ›gesunde‹ Sachen nicht mehr essen – die Müsliriegel, die Schokofrüchte. Er fühlt sich im Moment wirklich schlecht behandelt«, sagt Helen und fährt sich mit der Hand über die Lippen.
»Warum bringst du ihn nicht mal zu einem Ernährungsberater?«, schlägt Tam vor. Sie nippt an ihrem Wasser, als wäre es ein verdammter Martini.
»Ach was, das finde ich übertrieben. Ich muss nur mit der gesunden Ernährung und dem Sport weitermachen«, sagt Helen. »Will noch jemand eines von diesen köstlichen Dingern?«, fragt sie und deutet auf den Teller mit den Kanapees.
»Bedien dich«, sagt Liz, die ihr Spießchen immer noch unberührt in der Hand hält. »Du musst den Anfängen wehren«, fährt sie fort. »Sonst wächst er zu einem dicken Teenager heran, und dann hast du wirklich ein Problem.«
»Ich weiß, das macht mir ja solche Sorgen«, sagt Helen. Nur noch zwei Kanapees sind übrig.
»Jedes Mal, wenn er einen Nachschlag verlangt oder irgendwelchen Mist isst, musst du ihm sagen, dass er später dick und unglücklich sein wird«, sagt Liz. Ich werfe einen Blick zur Balkontür und bin erleichtert, dass Ereka, die zu der Bezeichnung »dick« einiges zu sagen hätte, außer Hörweite ist.
»Ach, hör auf, Liz, das ist viel zu hart. Er ist doch erst fünf, Herrgott noch mal«, sage ich.
»Sechs«, korrigiert mich Helen.
»Fünf, sechs … er ist fast noch ein Baby«, sage ich.
»Gute Angewohnheiten kann man nicht früh genug annehmen«, erklärt Liz.
»Du bist ein Essensfaschist. Und die letzten beiden hebe ich für Ereka auf«, sage ich und sehe Helen an, die alle aufessen würde, wenn ich sie ließe.
»Aber ich habe keine dicken Kinder«, sagt Liz.
»Ich auch nicht«, wende ich ein. »Und ich trichtere ihnen nicht ein, dass Essen etwas Schlechtes ist.«
»Ja, aber deine Kinder essen nichts«, gibt Liz zurück.
»Nur Aaron«, wehre ich ab. »Und er isst schon. Nur zwei Sachen und nicht gerade regelmäßig, aber er isst.«
»Ich war ein dickes Kind«, sagt Tam.
Alle sehen sie an.
»Das kann ich mir kaum vorstellen«, sagt Dooly sanft. Sie hat Schweißperlen auf der Stirn und der Oberlippe. Ich wünschte, sie würde endlich diesen verdammten Schal ausziehen.
»Ich bin nie in die Mannschaften gewählt worden und hatte in der Schule nie einen Freund. Mein Spitzname war Stämmchen – wegen meiner Beine wie Baumstämme. Es war eine Qual, ich zu sein.«
Einen Moment lang empfinde ich fast so etwas wie Mitgefühl für Tam.
»Seht ihr?«, sagt Liz.
»Und was ist dann passiert?«, fragt Helen.
»Ich habe als Teenager, na ja, eine Essstörung entwickelt und ziemlich viel abgenommen. Während der Schwangerschaften habe ich alles wieder zugenommen, und jetzt esse ich gerade genug, um gesund zu bleiben«, sagt sie. Kein Wort von ihrem Nervenzusammenbruch oder dem Prozac, das sie immer noch schluckt und mit dem man wie von selbst abnimmt. Aber ich nehme an, niemand muss die anderen darauf hinweisen, wenn ein Elefant gefurzt hat.
»Siehst du?«, sage ich zu Liz, noch ein wenig verblüfft über die Enthüllung
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