Weichei: Roman (German Edition)
jahrzehntelang durchgefurzten Polsterstühlen. Und den Gestank durfte man als Dankeschön noch den restlichen Tag in seiner Kleidung mit sich herumtragen.
Kurzum: Sonntage sind langweilig. Besonders als Kind und als Single. Daher heute die Flucht an den mütterlichen Herd. Ich schlage strategisch geplant um die Essenszeit bei meinen Eltern auf. Ohne Pullunder und ohne Kinderkrawatte. Nach dem Fiasko bei der Natascha-Show eine willkommene Ablenkung. Hier brauche ich nicht einmal etwas zu sagen. Das übernimmt meine Mutter. Und zwar mit einer
Konsequenz, die ihresgleichen sucht. Denn Mama kann Stille und Schweigen nur sehr schwer ertragen. Stets sollten sich zumindest rudimentäre Sprachfetzen irgendwo im Raum tummeln. Und meist sorgt sie für deren stetige Vermehrung. Eine Vermehrung, die man nur mit der Zellteilung eines menschlichen Embryos vergleichen kann. Ständig zappelt ein neues Fetzenwort irgendwo in der Wohnung. Hier eine kleine Suggestivfrage in der Küche, dort eine belehrende Phrase im Bad. Schaut man mal für einen winzigen Moment nicht hin – zack, schon ist wieder einem sinnfreien Kommentar Leben geschenkt worden.
Mein Vater hat über die letzten dreißig Jahre eine bemerkenswerte Strategie entwickelt, die ihn diese Nonstop-Audio-Beschallung ertragen lässt. Und somit ein Zusammen- und Überleben an meiner Mutters Seite überhaupt erst ermöglicht hat. Dazu hat er sich anthropologisch gesehen ein eigenes Gen geschaffen, das das Zusammenleben auch in die nächste Ära retten soll und das er, je nach Härtegrad, wahlweise abrufen kann.
Da hätten wir zum einen das filigrane Nur-mal-kurz-raus-Gen für die imaginäre Zigarette zwischendurch und zum anderen das kompromisslose Für-’ne-Stunde-weg-Gen für das ganz tiefe Luftholen.
Bevor eine Situation zu eskalieren droht, scheut mein Vater nicht davor, eines dieser Gene auch einzusetzen, und verschwindet je nach Bedarf und Schwere für geraume Zeit in seinen Garten. Dann kommt er wieder zurück an die Heimatfront, gibt meiner Mutter einen Kuss – und alles ist wieder gut.
Beneidenswert.
Ich hatte bei Steffi nur das Auf-den-Sack-Gen erlebt. Vererbung wird anscheinend überbewertet.
Da ich mich nicht allzu oft in den Schoß meiner Mutter
flüchte, ist ihr Verhalten heute noch liebevoller und damit noch anstrengender als sonst. Schließlich muss sie all die angestaute Mutterliebe nun in gehäufter Form an mir abarbeiten.
Nachdem ich mein Kommen bereits gestern und somit noch innerhalb der allgemeinen Öffnungszeiten der dörflichen Metzgerei angekündigt habe, braten sowohl die bestellten Koteletts als auch deren treue Begleiter, die Bratkartoffeln, in der Pfanne. Während dieses kulinarische Duett in der Pfanne brutzelt, habe ich einen Liegeplatz vor dem Fernseher eingenommen und schaue den Biathlon aus Östersund.
Vor dem letzten Schießen liegt Magdalena Neuner uneinholbar vor der Russin Swetlana Sleptsowa und der heimischen Schwedin Helena Johnson, der vor lauter Anstrengung und Verausgabung wieder mal der Sabber in langen Fäden vom Kinn tropft, als hätte sie im letzten Waldstück die komplette Östersunder Dorfjugend fellationiert.
»Willst du ein Schälchen für den Gurkensalat?«, fragt meine Mutter aus dem gekachelten Küchenquadrat. Und schon bin ich mitten im Spiel.
Was nun?
Antworten?
Abwiegeln?
Überhören?
Ganz egal, wie ich mich entscheide, es wird keinerlei Einfluss auf die Antworten meiner Mutter haben. Dessen bin ich mir bewusst. Dennoch fühle ich mich durch die Koteletts ein wenig unter Zugzwang und leiere mir ein »Nö, brauch ich nicht« aus den Stimmbändern.
»Dann hol schon mal die Schönen von LEONARDO aus dem Esszimmerschrank.«
»Nö, will ja kein Schälchen.«
Nach einer rein taktischen Wortpause, in der ich ihr beinahe
auf den Leim gehe und denke, dass sie mich spätestens beim zweiten Mal vielleicht wirklich verstanden hat, sehe ich meine Mutter aus der Küche kommen und zum Wohnzimmerschrank gehen.
»Dir muss man aber auch alles hinterhertragen.«
»Aber ich will doch gar kein Schälchen.«
Zu spät. Meine Mutter ist ins Rollen gekommen. Denn auch sie hat über die Jahre eine Anpassung an ihre Umwelt vollzogen. Sie hat für sich den auditiven Wortfilter entdeckt. Dabei hört die jeweilige Person nur stark gesiebt die Worte des unmittelbaren Umfelds. Der Rest bleibt als leere Worthülse irgendwo im Raum zurück. Sich selbst zum Sterben überlassen.
»Wie Stefanie das nur mit dir aushält?«
Ich
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