Weichei: Roman (German Edition)
schweige. Dafür redet der ZDF-Experte und berichtet, dass die Italienerin Michela Ponza überraschend auf Rang drei nach vorn gerückt ist. Da hat Frau Johnson im letzten Waldstück wohl etwas übertrieben.
»Ponza«, ruft meine Mutter uninspiriert auf dem Weg zurück in die Küche und hinterlässt damit eine dieser teuflischen Sprachfetzen im Zimmer, die nach Fortsetzung schreien. »Ponza«, wiederholt sie erneut, und ich weiß, dass da noch mehr kommen wird. »Wir hatten mal einen Friseur hier um die Ecke. Der hieß auch Ponza.«
»Hmm«, brumme ich und sehe vorbei an einem Stoß LEONARDO-Glasschälchen, wie Magdalena Neuner die ersten beiden Schüsse versemmelt. Dann kommt meine Mutter für die restlichen Glasschälchen und weitere Wortfetzen zurück ins Wohnzimmer.
»Oder hieß der Ponte?«
»Keine Ahnung. Ich kenne ihn nicht.«
Der wuselige Körper meiner Mutter tarnt sich für einen
kurzen Moment im sicheren Umfeld der Küchenzeile, kommt aber sogleich wieder herausgeschossen.
»E … E … E … E!«
Okay, dass meine Mutter anfängt zu stottern, ist neu.
»Was ist mit E?«
»Irgendwas mit E.«
»Ach Mama, ist doch scheißegal. Das ist vierzig Jahre her, und ich kenn den Italo-Friseur weder als Ponza, Ponte noch als irgendwas mit E.«
Wieder verschwindet meine Mutter in den Tiefen des Raums, nur um Sekundenbruchteile später wieder vor dem Fernsehbild aufzumarschieren.
»Emilio Calliguri. So hieß er.«
Ich habe nicht den Hauch einer Idee, wie meine Mutter von Ponza auf den Namen Emilio Calliguri kommen konnte. Auch dieser Gedankensprung wird auf ewig ihr Geheimnis bleiben. Stattdessen nicke ich abwesend, antworte, dass ich gerne den Biathlon weiter sehen möchte, und widme mich wieder dem fröhlichen Scheibenschießen. Es folgen handgestoppte dreieinhalb Minuten Ruhe, bis sich der nächste Geistesblitz meiner Mutter verfestigt und nach einem Leben als gesprochenes Wort schreit.
»Ich fand ja den Weißflog immer so sympathisch.«
Den Weißflog? Eine weitere Meisterleistung meiner Mutter ist das Verbinden von völlig unabhängigen Themengebieten. Was sage ich: Themenkontinenten!
Für jeden rudimentär Sportinteressierten ist diese Aussage ein absolutes No go . Nichts gegen Jens Weißflog, aber dieser schnauzbärtige zweiundfünfzig Kilogramm leichte Flugossi hat mit Biathlon so viel zu tun wie der Papst mit dem Gurkensalat meiner Mutter. Aber will ich das jetzt wirklich meiner Mutter erklären? Sie schaut ja nicht einmal hin,
sondern wuselt halb im Schrank liegend, halb in der Küche stehend, nach unzähligen weiteren Glasschälchen herum, als würde noch eine Abordnung der Landfrauen zum Essen vorbeischauen.
Frau Neuner hat sich derweil dazu entschieden, auch die Schüsse drei und vier irgendwo ins Unterholz zu ballern. Jetzt bin ich genervt und erliege somit der Verlockung.
»Mama, das hat nix mit dem Weißflog aus Sachsen zu tun, das ist der Biathlon aus Östersund.«
»Der Biathlon aus Östersund?«, hallt es gläsern aus dem Unterschrank. »Na, das finde ich aber toll, dass da jetzt auch ein Grieche aus Schweden mitmachen darf. Das nenn ich Integration.«
Zunächst verstehe ich nicht ganz, dann wird mir klar, dass meine Mutter denkt, der Biathlon sei ein griechischer Name und der Kerl käme aus Östersund in Schweden .
Ich gebe auf.
Genauso wie unsere Gold-Lena, die auch die letzte schwarze Scheibe ignoriert und es vorzieht, das komplette Strafrundenpaket zu schultern. Warum rät man diesem Laufwunder mit Schießbudenniveau nicht einfach dazu, im Vorbeifahren auf die Scheiben zu schießen? Eine Art Driveby-Shooting für Biathleten. Es würde Zeit sparen, und noch weniger treffen kann sie ja sowieso nicht.
»Hier!« Ohne Vorwarnung bekomme ich einen Stoß Glasschälchen in die Hand gedrückt. »Stell die mal zu den Tellern. Dein Vater wird auch gleich wieder zurück sein.«
»Wo ist Papa denn eigentlich?«
»Der wollte mal kurz rausgehn. Glaub, in den Garten.«
Respekt, Papa, sehr konsequent. Als würde bei fast Minusgraden mitten im November auch nur irgendwas im Garten gemacht werden müssen. Weder Saat noch Ernte dürften zu
dieser schattigen Jahreszeit allzu viel Erfolg versprechen. In meiner Mutters Stimme schwingt dennoch nicht der Hauch von Verwunderung oder gar Kritik.
Als Nächstes sehe ich, wie meine Hände den Tisch eindecken. Mit Tellern, Besteck und einem halben Dutzend LEONARDO-Glasschälchen, die niemand benutzen wird. Nicht einmal meine Mutter. Sie wird die
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