Weichei: Roman (German Edition)
Jahren auch nur ein einziges Mal annähernd so besoffen gewesen zu sein. Und ich weiß, wovon
ich rede: Ich hatte Abstürze auf Stefanies Familienfeiern, verursacht durch ihren Onkel Willi, der ein großer Freund des Hörnerwhiskeys ist. Er besitzt sogar eine eigens dafür konstruierte Jägermeister Kühl- und Zapfanlage, die er nicht müde wird, auch ganz gezielt gegen die Zivilbevölkerung einzusetzen. Aber selbst auf der Hochzeit von Stefanies Cousine Franziska, auf der ich mit Onkel Willi neue Maßstäbe in Sachen Jägermeister und damit verbundenen Kollateralschäden setzte, behielt ich mir zumindest den animalischen Trieb zur Selbsterhaltung der eigenen Art. Heute Abend nicht. Ich habe es übertrieben und möchte nun sterben. Scheiß auf die Gattung der Süßemilchs. Sollen wir doch aussterben und ein für alle Mal von diesem sowieso schon kaputten Planeten verschwinden.
Nachdem ich die tückische Falle des Türschlosses überlistet habe, stolpere ich durch den Flur und mache mich über den kompletten Vorrat an der neu zugelegten Herrenschokolade mit neunzig Prozent Kakaoanteil her. Schmeckt nicht so gut wie meine Yogurette, ist aber männlicher. Aus den Augenwinkeln erkenne ich währenddessen, dass das unbeugsame Volk der Ameisen noch immer unbeugsam ist. Jetzt reicht es mir. Ich greife zum Hörer und rufe die Auskunft an. Trotz der späten Stunde und meines Lallens stellt mich die nette Dame direkt zu einem Kammerjäger durch. Erstaunt und verärgert darüber, dass dieser um kurz nach drei Uhr nachts nicht mehr in seinem Büro ist, spreche ich ihm einen Terminvorschlag auf den Anrufbeantworter, den ich im gleichen Moment aber wieder vergesse. Mit dem Telefon in der Hand und Reststücken von Herrenschokolade um die Mundwinkel steuere ich erstaunlich zielsicher mein Schlafzimmer an. Die Automatismen funktionieren noch immer bestens, und mit irgendeinem Körperteil schalte ich den Fernseher ein. Schnaufend lasse ich
mich ins Bett fallen, lege meinen Arm um Shrek und drehe mich so, dass ich dem deutschen Nachtprogramm in seine furchtbare Fratze schauen kann. Denn nachts braut sich der gesammelt-gesellschaftliche Hirnfurz unserer Nation zu einem beachtlichen Sturm zusammen, in dessen Zyklopenauge ich nun blicke. Entweder eine Gruppe junger Frauen spielt zu dieser Uhrzeit im Sportfernsehen sinnfrei nackt Badminton, oder eine scharfe Rentnerin jenseits der siebzig mit mintfarbenem Lidschatten will mich durch subtile Wortschöpfungen davon überzeugen, sie sofort anzurufen.
Ich schalte den Videotext ein. Mal sehen, was die Welt in den letzten Stunden ohne mich so getrieben hat.
Beziehungsdrama in Rüsselsheim.
ZACK, hingezappt.
In einem Eissalon in Rüsselsheim hat ein Mann seine Exfrau und deren neuen Freund mit einem Obstmesser erstochen. Da wird wohl in den nächsten Tagen keiner einen Früchtebecher oder ein Bananensplit bestellen.
ZACK, weg.
Skandal bei der Bundeswehr.
ZACK, hingezappt.
In einer Kaserne der Gebirgsjäger wurden einige Soldaten von Kameraden gemobbt und dazu genötigt, gegen ihren Willen Befehle auszuführen, die ihnen unsinnig erschienen.
Nein, gibt’s das denn?!
Bei der Bundeswehr werden also Dinge befohlen, die einem unsinnig erscheinen? Wer hätte das gedacht?! Wo die doch sonst immer alles durchdiskutieren und dann per demokratischer Abstimmung entscheiden, ob das für alle auch so okay geht, sie ins Manöver ziehen sollen oder doch lieber auf der Stube weiterhäkeln. Am Ende kommt noch raus, dass die dort bei der Bundeswehr Alkohol trinken.
ZACK, weg.
Auf Tafel 600 wird eine TED-Umfrage zur Fußball-Bundesliga gemacht.
ZACK, hingezappt.
Frage: Glauben Sie, dass Bayern München erneut Deutscher Fußballmeister wird?
Was für eine Scheißfrage! Erstens steht die Antwort doch ohnehin fest, und zweitens ist es eine Frechheit, auf diese Art und Weise den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Aber es kommt noch besser. Als ich aus reiner Neugier die Seite aufrufe, befinden sich dort nicht nur die zu erwartenden Antworten JA oder NEIN, sondern noch drei weitere Optionen.
Für JA stimmen erwartet hohe dreiundsiebzig Prozent, für NEIN immerhin zwölf Prozent. Und tatsächlich rufen unter der angegebenen Nummer irgendwelche Vollkasper an, um WEISS NICHT mit acht Prozent, MIR EGAL mit vier Prozent und VIELLEICHT mit drei Prozent zu unterstützen.
Wie unterbelichtet muss ein Mensch sein, um sein Telefon in die Hand zu nehmen und an einer Befragung teilzunehmen, deren Ergebnis
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