Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
Gottes in Jesus Christus zeichnet das Christentum aus.
Die Frage, wie Gott in die Welt kommt, bewegt die verschiedensten Religionen. Das Thema Inkarnation wird zwar auch in anderen Religionen diskutiert, allerdings in einem weiteren Sinn von »präsenzschaffende Überschreitung«. 8 Auch die großen, weltweit verbreiteten Religionen beantworten die Frage »Wie kommt Gott in die Welt?« recht unterschiedlich. Das Christentum gibt seine Antwort an Weihnachten, indem es sagt: Gott wird geboren. Er kommt zur Welt als Kind, leiblich geboren von einer Frau. Dass Gott wahrer Mensch wird in diesem einen Menschen, zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort, das ist spezifisch christlich. Inkarnation, in das Fleisch hineingeboren sein, eröffnet den Heilsweg Jesu Christi von der Krippe bis zum leeren Grab.
Das Kind in der Krippe – verwundbar
Das Überraschende an Weihnachten ist die Botschaft, dass Gott als Mensch geboren wird. Nackt und bloß, klein und verletzlich, hilflos in allem – so kommt Gott zur Welt. Gott offenbart sich als schutzbedürftiger Säugling. Wie unerhört diese Botschaft ist, wird deutlich im Vergleich zu dem, was die Menschen damals kannten. In der hellenistisch-römischen Kultur werden kampfeslustige Helden oder machtvolle Kaiser relativ häufig als Götter verehrt. Sie wurden »deifiziert«, d. h. zu Gott gemacht. 9 Auch andere Götter treten in menschlicher Gestalt auf. Aber all diese Götter sind nicht arm, ohnmächtig oder marginalisiert. Sie treten stark und machtvoll auf. Sehr anschaulich führt das die Göttin Athene vor Augen. Sie wird nicht ganz gewöhnlich von einer Frau geboren, und sie ist überhaupt niemals ein verletzlicher Säugling. Vielmehr entspringt sie dem Kopf des Göttervaters Zeus – als erwachsene Frau und in voller Kampfausrüstung. Sie kommt zur Welt mit einer schützenden Rüstung und mit Waffen in der Hand. Sie ist aggressiv und sofort kriegsbereit. Das demonstriert sie unübersehbar mit Rüstung, Waffen und nicht zuletzt mit ihrer kriegerischen Körperhaltung.
Ganz anders Jesus. Er kommt ohne Rüstung, ohne Schutzschilde und ohne Waffen. Er ist noch nicht einmal erwachsen. Als Säugling ist er aufs Äußerste verwundbar, denn er ist großen Risiken an Leib und Leben ausgesetzt. Er besitzt keine eigenen Ressourcen, sondern er ist darauf angewiesen, dass Andere ihn mit dem versorgen, was für sein Überleben notwendig ist. Er braucht tägliche Körperpflege, die Andere für ihn leisten. Er braucht Nahrung, die Andere ihm zur Verfügung stellen. Und er braucht vielfältigen Schutz vor zu großer Hitze oder Kälte, vor Sturm und Blitzeinschlag, vor dem Angriff wilder Tiere und Menschen. Er kann sich nicht aus eigener Kraft gegen Angriffe verteidigen. Wenn er krank wird, kann er nicht einmal sagen, wo es ihm wehtut und was eigentlich los ist, denn er verfügt noch nicht über die menschliche Sprache.
Säuglinge sind generell ein Symbol für das, was heute »Vulnerabilität« genannt wird. Diese Verwundbarkeit verschärft sich noch bei Kindern, die in der Fremde oder auf der Flucht zur Welt kommen. Auch Jesu Verletzlichkeit ist potenziert, denn seine Eltern können ihm nicht den Schutz und die Geborgenheit eines Zuhauses bieten. Weil sie aus steuerpolitischen Gründen ihren Wohnort verlassen mussten, sind sie während seiner Geburt in der Fremde. Einige Jahrhunderte später, in der Zeit des Hochmittelalters, greift die Mystikerin Mechthild von Magdeburg diese »Outdoor-Geburt« auf. Sie begreift die bedrohliche Macht, die im »Draußen«, in der Ausschließung liegt. Mechthild geht davon aus, dass Jesus arm, machtlos und gefährdet ist. Er wird geboren »am Straßenrand in der Nacht, in Betlehem in der Fremde, wo Maria selbst ein armer Gast ohne Herberge war«. Mariawickelt ihn in ein grobes Tuch und legt ihn in eine Krippe, so dass er »hart gebettet« wurde (Mechthild von Magdeburg 2003, 367, FLG V,23). Die mittelalterliche Armutsbewegung, zu der Mechthild gehört, stellt das Ungeschützte der Geburt deutlich heraus.
Den Grundstein hierzu hat Franziskus von Assisi gelegt, der die Krippe als Ort der Armut begreift – und zugleich als Ort der Verheißung präsentiert. In einer wegweisenden Zeichenhandlung inszeniert er 1223 das Weihnachtsfest auf ganz besondere Weise. »Ich möchte mich gern an das Kind erinnern, das in Betlehem geboren wurde, und mit meinen Menschenaugen die Schwierigkeiten seiner ärmlichen Kindheit sehen, wie es in der Krippe liegt und
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