Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
Micha kann man auch auf die Familie Jesu beziehen. Maria und Josef müssen mit Jesus fliehen. Sie gehen nicht freiwillig in ein fremdes Land, sondern ihre Migration erfolgt aus politischen Gründen. Eine Staatsmacht greift unerbittlich zu und trachtet dem Neugeborenen nach dem Leben. Wenn Jesus eine Zukunft haben soll, dann muss sein Leben geschützt werden – sofort, ohne Zögern und mit aller Kraft.
Josef erkennt dies und handelt unverzüglich. Das Matthäus-Evangelium suggeriert, dass er sofort aufspringt, mitten in der Nacht, dass er hastig alles zusammenpackt und mit Frau und Neugeborenem aufbricht. Es bleibtkeine Zeit. Eine dramatische Flucht erfolgt. Kurz nach einer Geburt außerhalb schützender Mauern müssen sie Hals über Kopf aufbrechen, denn sie sind von Mord und Totschlag einer skrupellosen Staatsmacht bedroht. Sie fliehen weg aus ihrem Heimatland und damit über politische, kulturelle, wirtschaftliche und religiöse Grenzen. Dies erfordert große körperliche Anstrengungen. Zugleich ist eine Flucht immer auch eine geistig-geistliche, eine spirituelle Herausforderung. Maria und Josef wissen, dass die Häscher des Herodes ihnen nachsetzen. Die Häscher sitzen ihnen im Nacken. Jederzeit müssen die Fliehenden daher wachsam sein und beobachten, ob sich ein Übergriff ankündigt. Sie beäugen Menschen und alles, was sich bewegt. Sie wissen nicht, wem sie vertrauen und wann sie rasten können. Zudem fördern die Häscher im Nacken nicht gerade einen gesunden, tiefen Schlaf. Ein Ohr bleibt immer offen. Das alles macht den beschwerlichen Weg noch schwerer.
Das Matthäus-Evangelium stellt Josefs Leistung besonders heraus. Er bleibt nicht dort, wo sein Leben und das seiner Familie bedroht sind, sondern er flieht auf dem weiten Weg nach Ägypten. Er geht nicht den leichten und sicheren Weg, sich seiner Verantwortung als sozialer Vater durch Abwesenheit zu entziehen. Er setzt vielmehr alles daran, das Überleben des Kindes zu sichern. Sein Verhalten führt die Notwendigkeit vor Augen, sich und Andere an der richtigen Stelle vor Verwundungen zu schützen. Josef ist verblüffend großzügig und opferbereit. Er könnte damit heute zum Vorbild für soziale Väter und Mütter aller Art werden – Menschen, die Hingabe wagen, indem sie Anderen Unterstützung und Schutz gewähren.
Maria und Josef riskieren ihr Leben, um ihr Kind vor Verwundung und Tod zu schützen. Menschen auf der Flucht sind äußerst verwundbar. In der Fremde können sie nicht auf das Entgegenkommen von Verwandten, Freundinnen und Freunden zählen. Sie müssen um ihr Wohlergehen, häufig sogar um ihr Leben bangen. Sie kommen an Orte, wo sie unerwünscht sind, weil sie als Bedürftige oder Drückeberger, Habenichtse oder gar Verbrecher eingestuft werden. Selbst diejenigen, die in ihrem Heimatland wohlsituiert waren, dann aber aus politischen Gründen fliehen müssen, kommen in ihrem Gastland in eine schwierige, weil ungesicherte Situation. Auch Flüchtlinge zeichnet eine hohe Verwundbarkeit aus: Sie können sich gegen Übergriffe aller Art nur bedingt zur Wehr setzen; sie verfügen nicht über notwendige Lebensressourcen und sind auf den Schutz durch Andere angewiesen.
Auch Jesus bleibt von der Flucht nicht unberührt. In Ägypten wird er zum Kind mit Migrationshintergrund. Als solches ist er den Gefährdungen des Lebens in besonderem Maß ausgesetzt. Er ist nicht zuhause, sondern in der Fremde. Und dennoch besteht Hoffnung auf eine große Zukunft, die sich später auch tatsächlich realisiert.
Begeistert das Leben feiern – der Zauber von Weihnachten
Die Eltern fliehen aber nicht, ohne zuvor einen hilfreichen Reiseproviant zu erhalten: die Zuversicht des weihnachtlichen Geburtsfestes. In der Unbehaustheit der Krippe finden sie Geborgenheit. Diesen Reiseproviantwerden sie auf ihrem gefährlichen Weg dringend brauchen. Wenn man vor dem Hintergrund der bevorstehenden Flucht das Weihnachtsfest nochmals in den Blick nimmt, so wird besonders deutlich, worin bis heute der Zauber von Weihnachten liegt. Bei allen Frauen, Männern und Kindern, die an die Krippe kommen, hat man es mit Menschen zu tun, die hingebungsvoll leben. Sie alle wagen Hingabe und gewinnen auf diesem Weg Leben.
Hingabe – das ist ein Wort voller Tücken. Es mag an Naivität erinnern, an kitschige Liebesromanzen, in denen junge, schöne Menschen nur so dahinschmelzen. Oder es ruft die unzähligen Soldaten ins Gedächtnis, die in unzähligen Kriegen »hingegeben« wurden und einen
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