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Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit

Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit

Titel: Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hildegund Keul
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zurückkehren können, und verlieren ihre Heimat.
    Solche Heimatlosigkeit bringt das Lukas-Evangelium andernorts in einer ausdrucksstarken Metapher, einer Migrationsmetapher, ins Wort. »Die Füchse haben ihre Höhlen und die Vögel ihre Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann.« (Lk 9,58) Lukas bringt hier die Ausgrenzung Jesu auf den Punkt, die mit der Geburt in der Fremde und der Flucht nach Ägypten beginnt. Theologisch ist dies sehr aufschlussreich. Bereits die biblischen Weihnachtsgeschichten geben den Anstoß zu einer Theologie der Verwundbarkeit, in der Migration eine besondere Rolle spielt. Dabei geht es nicht nur um die Flucht der jungen Familie. Vielmehr machen die Evangelien »Migration« zu einem Schlüsselbegriff christlichen Glaubens. Nicht nur Maria, Josef und ihr Kind migrieren, sondern auch Gott selbst. Die Inkarnation, die Menschwerdung Gottes, ist selbst ein Akt der Migration.
    Das mag auf den ersten Blick als eine sehr steile These erscheinen. Aber die Wortgeschichte zeigt, dass diese ungewöhnliche Beschreibung naheliegend ist. Denn das lateinische »migrare« bedeutet allgemein »den Ort wechseln« und speziell auswandern, eine Grenze überschreiten. 12 Nichts anderes tut Gott in der Inkarnation. Gott, das absolute Gegenüber, der Schöpfer der Welt, wechselt den Ort und geht mitten in die Schöpfung hinein. Es gibtkeinen größeren und riskanteren Weltenwechsel. Von einem wohl geschützten, geradezu unverwundbaren Ort aus geht er an einen unsicheren Ort, der voller Gefahren ist. In Jesus Christus macht sich Gott verwundbar und angreifbar. Er begibt sich in die Hände von Menschen und ist auf deren Zuwendung angewiesen – oder ihrer Grausamkeit ausgeliefert. Die Fleischwerdung Gottes in Jesus Christus ist ein äußerst riskanter Ortswechsel, ein gewagter Akt der Migration.
    Voraussetzung ist hierfür allerdings, dass Gott nicht nur zum Schein, sondern tatsächlich Mensch wird. In der frühen Kirche wurde diese Frage hitzig diskutiert. Hat Gott in einer Art Verkleidung und nur zum Schein ein menschliches Aussehen angenommen – oder ist er wahrhaftig Mensch geworden? Gnostische Strömungen, die alles Fleischliche als Unwert ansahen und ablehnten, waren damals weit verbreitet. Sie vertraten den sogenannten Doketismus, die Schein-Theorie. Gegen diese Auffassung führte die Theologie die Geburt ins Feld. Sie wurde zum Hauptargument gegen gnostisches, fleischloses Denken. Die frühen Konzilien entschieden sich konsequent für diese Richtung und betonten deswegen das Geborensein Jesu. 13 Das Kind in der Krippe, geboren von einer jungen Frau, steht dafür, dass Gott sich nicht verkleidet oder tarnt. Gott kommt nicht als Trojaner, der sich aus polit-strategischen Gründen als etwas ausgibt, das er nicht ist. Jesus wird tatsächlich geboren als verletzlicher Winzling, hineingeboren in Unsicherheit und Gefahr. Gott verharrt nicht in einer erhabenen Position, sondern gibt sich in Jesus den körperlichen und seelischen Bedingungen menschlichen Lebens anheim. Inkarnation ist Migration hinab, dorthin, wo Menschenunterwegs und auf der Flucht vielfältigen Gefahren ausgesetzt sind.
    Auch für diese migrierende Bewegung hinab hat die Theologie einen Fachausdruck geschaffen: Kenosis. Hier war der Philipperhymnus der Bibel (Phil 2,5–11) sprachprägend, der über Jesus schreibt: »er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich […] er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz.« Das hier verwendete Verb »er entäußerte sich« zusammen mit »er erniedrigte sich« wird unter »Kenosis« gefasst. Gott begibt sich hinab in die Niederungen des konkreten Lebens. Er steigt herab, ohne aber »herablassend« zu sein. Die Künstlerin und Theologin Benita Joswig (gest. 2012) hat dies mit einer ganz einfachen, aber vielsagenden Metapher beschrieben: »Gott bückt sich.« 14
    Wenn Gott sich so in das menschliche Leben hineinbegibt, dann setzt er sich allen Risiken aus, die seiner Schöpfung eingeschrieben sind. Der menschgewordene Sohn Gottes stellt sich der Gefahr der »naturalen, sozialen und kulturellen Destruktion«. 15 Dass Gott sich so verhält, das ist erstaunlich. Denn Menschen wollen nicht verletzt werden. Sie schützen sich vor Verwundungen, weil Wunden schmerzlich sind und lebensbedrohlich werden können. Gott aber antwortet auf die Risiken des Lebens und die Wunden der Welt nicht, indem er sich unverwundbar hält. Vielmehr

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