Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
kein privilegiertes Ansehen, obwohl dies kulturell weit verbreitet ist. Sie erhalten nicht noch mehr, sondern gehen leer aus. Die Herrschenden, die in ihrer vorgeblichen Unverwundbarkeit dem Hochmut erliegen und ihre Macht missbrauchen, werden vom Thron gestürzt. Die Pläne der Stolzen,die ohne Rücksicht auf die Wunden Anderer agieren, macht Gott zunichte. Von ihnen wird Bekehrung eingefordert, die dazu führt, dass sie ihre Reichtümer zum Wohlergehen der Armen einsetzen. Die Armen haben Vorrang, die Verwundeten können auf Heilung hoffen und die Erniedrigten werden erhöht. Mit ihrem Magnifikat stellt sich Maria in diese andere Ordnung der Dinge.
Daher ist die schwangere Maria, obwohl sie und ihr Kind gefährdet sind, begeistert und voller Leben. Sie begreift Gott als die Macht derer, die von herrschenden Mächten und Gewalten an den Rand gedrängt und verwundet sind. Um Fleisch zu werden, geht das Wort Gottes nicht zu denen, die immer schon das Sagen haben. Vielmehr steht es denen zur Seite, die in ihrer Verwundung verstummt sind. Aus diesem Grund verhilft das Wort Gottes, das der Engel an Maria richtet, ihr zur Sprache. Maria vertraut dem Schöpfungswort »es werde« und wird zur Prophetin des Magnifikat. Sie bricht in einen Jubelgesang aus, in dem sie die schöpferische Lebensmacht Gottes besingt. Hier findet die Erniedrigte zu ihrer Stimme – kraftvoll, widerständig, lebensfroh.
Diese bejahende Lebenshaltung bewahrt sich Maria durch alle Turbulenzen hindurch. In besonderer Weise zeigt sich dies an Weihnachten. Als Maria in Betlehem ankommt, braucht sie dringend einen geschützten Raum, wo sie gebären kann. Als ihr dieser Schutzraum in der Herberge verweigert wird, beklagt sie sich nicht und schwört erst recht keine Rache. Der Ausschluss durch die Wohlhabenden scheint die junge Familie gar nicht zu bekümmern. So durchbrechen sie die Spirale der Gewalt, die in solchen Ausschließungen häufig in Gang kommt. Sie suchen sich einen anderen Ort, der die Geburt ermöglicht. Er liegt dem Lukas-Evangelium zufolge im ländlichen Raum, einem Ort, den Hirtinnen und Hirten geschaffen haben. Nun kann Maria gebären.
Und die Tiere?
Die Bibel geht auf diese Frage nicht ein, aber die Tradition hat diese Lücke phantasievoll gefüllt. Denn es ist selbstverständlich, dass sich in der Nähe einer Krippe Tiere aufhalten, die Wärme spenden, Lebendigkeit ausstrahlen, weite Wege erleichtern und Nahrung geben. Auch die Unterstützung von Tieren ist notwendig, damit das verletzliche Leben Jesu wachsen und gedeihen kann:
Schafe, Ziegen, vielleicht ein Hund sind an der Krippe oder kommen mit den Hirtinnen und Hirten
Kamele führen die Sterndeuterinnen und Sterndeuter durch die Wüste; ohne Kamele haben sie auf ihrem Weg durch die Dürre kaum eine Überlebenschance
Ochs und Esel sind von der Krippe nicht wegzudenken, spätestens seit Franziskus sie dort platziert hat. Der Esel ermöglicht Maria, die von der Geburt geschwächt ist, die Flucht
Auch und insbesondere die Geburt ist ein gewagter Akt der Hingabe. Eine Geburt fordert die Mutter mit allem, was sie ist. Sich nebenbei mit ganz anderen Dingen zu beschäftigen und vieles gleichzeitig zu machen, das ist hier gar nicht möglich. Mit jeder Faser des Körpers und mit jedem Funken des Geistes muss die Gebärende präsent sein. Die Wehen packen sie ganz und treiben auf die Geburt neuen Lebens zu. Das Leben der Mutter und das Leben des Kindes sind nun in Gefahr. Wenn aber das Kind dann endlich da ist und »das Lichtder Welt erblickt«, dann ist es geschafft. Durchatmen ist angesagt. Wie bei vielen anderen Geburten, so bleiben auch die Eltern Jesu nicht allein. Besuch kommt, unangekündigt, überraschend, erfreulich. Denn es gibt etwas zu feiern: eine geglückte Geburt.
Flucht vor dem tödlichen Zugriff der Diktatur – sich selbst und Andere schützen
Das Titelbild dieses Buches zeigt das Gemälde »Die Flucht nach Ägypten« von Rembrandt. Dort geht Josef, ein Handwerker mit kräftigen Waden und belastbaren Füßen, voran. Als Handwerker weiß er, dass man Verwundungen riskieren muss, wenn man ein Werk erschaffen will. Die junge Mutter mit dem Neugeborenen im Arm ist schutzbedürftig und bietet Schutz zugleich: In ihren Armen ist das Kind geborgen.
»Winde dich, stöhne, Tochter Zion, wie eine gebärende Frau! Denn jetzt musst du hinaus aus der Stadt, auf freiem Feld musst du wohnen.« (Mi 4,10) Diese bedrohliche Prophezeiung aus dem alttestamentlichen Buch des Propheten
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