Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
einen zugkräftigen Anwalt einzuschalten oder die Entscheider zu bestechen; man hat nicht jene Beziehungen, die dem Machtmechanismus ins Räderwerk greifen.
Aus diesem Grund müssen die Armen und sozial Schwachen in besonderer Weise vor dem Zugriff von Institutionen aller Art bewahrt werden. Jesus tut dies im Zeichen des Reich Gottes, das für Frieden und Gerechtigkeit steht. Damit riskiert er selbst etwas. Wer widerspricht, weckt Widerspruch. Wer Machtmechanismen blockiert, weckt die Energie derer, die von diesen Mechanismen profitieren. Dies gilt in besonderem Maß, wenn die gesamte Ordnung der Dinge umgekehrt wird. »So werden die Letzten die Ersten sein und die Ersten die Letzten.« (Mt 20,16) Jesus predigt die Umkehr weg von den Fleischtöpfen Ägyptens hin zum Reich Gottes, das aus einer Kultur des Teilens lebt. Daher kann er sich nicht dickhäutig machen, eine Rüstung anziehen und Waffen zur Hand nehmen. Dem Zeichen der Inkarnation folgend, setzt er seine Verwundbarkeit aufs Spiel, um Leben zu eröffnen – für sich selbst, für Andere und für die Schöpfung. Kranke und Sterbende, Hungernde und Gefangene, marginalisierte Fischer und geächtete Prostituierte erhalten seine Aufmerksamkeit.
Die Evangelien stellen heraus, dass Jesus sich durch eine große Sensibilität für Wunden aller Art auszeichnet. Selbst wenn diese nicht offen gezeigt, sondern eher verborgen werden, nimmt er sie wahr und reagiert behutsam. Das zeigt die Heilung einer Frau besonders gut, von der das Markus-Evangelium erzählt (Mk 5,25–34). In einer Menschenmenge, die sich um Jesus drängt, ist aucheine Frau, »die schon zwölf Jahre an Blutungen litt. Sie war von vielen Ärzten behandelt worden und hatte dabei sehr zu leiden; ihr ganzes Vermögen hatte sie ausgegeben, aber es hatte ihr nichts genutzt, sondern ihr Zustand war immer schlimmer geworden.«
Die Frau, deren Name nicht genannt wird, setzt ihre Hoffnung auf Jesus und seine heilende Kraft. Heimlich drängt sie sich in der Menge von hinten an ihn heran, so dass er sie nicht sieht. Sie will ihre Verwundung nicht öffentlich machen. Sie berührt seine Kleidung, und »sofort hörte die Blutung auf, und sie spürte deutlich, dass sie von ihrem Leiden geheilt war.« Jesus aber fragt nach. Er holt ihre verletzende Krankheit aus der Diktatur des Verschweigens heraus. Noch voller Furcht erzählt sie ihm, was ihr geschehen ist. »Er aber sagte zu ihr: Meine Tochter, dein Glaube hat dir geholfen. Geh in Frieden! Du sollst von deinem Leiden geheilt sein.« (5,34)
An dieser Erzählung zeigt sich, wie Verwundungen funktionieren. Sie sind überaus machtvoll, weil sie sich potenzieren. Ständige Blutungen schwächen den Körper. Zudem gilt eine »blutflüssige« Frau in der damaligen Zeit als kultisch unrein. Auf das körperliche Phänomen folgt verstärkend die soziale Ächtung. 19 Diese wiederum gräbt sich alltäglich in das Leben hinein. Die Frau ist sozial ausgegrenzt, weil die Berührung mit ihr oder mit einem Gegenstand, den sie berührt hat, die Unreinheit überträgt. Wenn sie sich auf einen Stuhl setzt, so ist dieser tabu. Soziale Kontakte und menschliche Kommunikation sind damit gravierend behindert. Soziale Ausgrenzung aber wirkt als Verstärker auf das Zerstörerische der Verwundung. Wie sich das auf das Selbstwertgefühl auswirkt, lässt sich heute nur erahnen.
Auffällig ist, dass die Frau von Jesus die Heilung erhofft, dass er sie aber auf ihren eigenen Glauben zurückverweist. Die Heilung geschieht durch einen Tabu-Bruch. Als kultisch Unreine darf sie Jesus nicht berühren. Als sie es dennoch tut und dann auch noch zu ihrem Handeln steht, erfährt sie Heilung: »dein Glaube hat dir geholfen«. Zugleich ist signifikant, was Jesus tut. Er weicht vor der Frau nicht zurück, wie es bei ihrem Zustand zu erwarten wäre. Vielmehr rückt er sie, die buchstäblich an den Rand gedrängt und ausgegrenzt war, in den Mittelpunkt. Dabei geht es nicht darum, sie zu verurteilen. Vielmehr erfährt sie Wohlwollen und bekommt einen Segen mit auf den Weg: »Geh in Frieden!« Diesen Frieden wird sie gut brauchen können, denn ihr eigenes Verhalten ist gesellschaftlich genauso provokant wie das Wohlwollen Jesu.
Das Neue Testament erzählt viele Heilungsgeschichten, die symbolische Bedeutung haben. Er heilt die »verdorrte«, kraftlose und handlungsunfähige Hand eines Mannes, so dass er wieder anpacken und »handeln« kann (Mt 12,9–13). Eine verkrümmte Frau wird aufgerichtet, so dass sie
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