Weihnachten - Das Wagnis der Verwundbarkeit
anderen Menschen wieder auf Augenhöhe begegnen und mit aufrechtem Gang durchs Leben gehen kann (Lk 13,10–17). Nach der Darstellung der Evangelien erfolgen einige dieser Heilungen am Sabbat. Das ruft den Widerspruch derer hervor, die für die religiöse Ordnung zuständig sind. »Der Synagogenvorsteher aber war empört darüber, dass Jesus am Sabbat heilte« (Lk 31,14).
Seine Heilungswunder haben Jesus im 9. Jh. in der deutschen Sprache den Titel »Heiland« eingebracht. Das althochdeutsche Wort »heliand« war damals eine überraschende Innovation. Im heutigen Sprachgebrauch hörtsich dieser Titel eher harmlos an. Vielleicht treten Bilder aus Kinderbüchern vor Augen, wo Jesus in schöner, narben- und altersfreier Gestalt allwissend über die Erde schreitet und salbungsvoll seine heilenden Hände auflegt. Dieses Bild aber verdrängt, dass Jesus seine eigene Verwundung riskiert, indem er Heilung praktiziert. Wer Wunden sieht und heilt, macht sich damit leicht selbst angreifbar. Das gilt selbstverständlich dort, wo Krankheiten und Verwundungen ansteckend sind. Aber es gilt auch darüber hinaus. Wo Verwundungen das Leben antasten, entsteht Konfliktstoff. Wer sich hier einmischt und Kritik übt, bringt sich unter Umständen selbst in Gefahr. Vielleicht gibt es Menschen, die die Verwundung verursacht haben und in der Heilung eine Kritik am eigenen Verhalten sehen. Oder die Heilung weist, wie bei der an Blutungen leidenden Frau, auf soziale und religiöse Missstände hin, die die Verwundung verursachen oder potenzieren.
Verwundungen und Krankheiten, Armut und Hunger sind häufig auf Ungerechtigkeiten zurückzuführen. Jesus belässt es nicht allein dabei, zur Heilung beizutragen. Er spricht und deutet, kritisiert und widerspricht. Weil die Arbeitsbedingungen zu hart sind, ereignen sich schwere Unfälle. Weil der Arbeitsmarkt eng ist, gibt es Stundenlöhner, die viel zu gering entlohnt werden. Weil Einige wachsenden Besitz anhäufen, werden Andere immer ärmer. Die Ausbeutung der Arbeitskraft, die »bis aufs Blut« geht, ist ein ständiges Problem der Menschheit. Dem hält Jesus entgegen: »Euch aber muss es zuerst um Gottes Reich und um seine Gerechtigkeit gehen; dann wird euch alles andere dazugegeben.« (Mt 6,33) Jesus erhebt eine prophetische Stimme. Einmal wird er sogarhandgreiflich, als er die Händler und Geldwechsler aus dem Tempel vertreibt. Von diesem Ereignis berichten alle vier Evangelien (Mt 21,12–17; Mk 11,15–17; Lk 19,45 f; Joh 2,13–22) – mit unterschiedlichen Akzentuierungen, aber alle im Sinne einer prophetischen Zeichenhandlung. Keineswegs geduldig und lammfromm, sondern lautstark und zornig tritt Jesus hier auf.
In der Geburt Jesu handelt Gott solidarisch mit den Menschen. Daher entscheidet sich der Glaube der Menschen an diesen inkarnierten Gott daran, ob sie selbst solidarisch handeln – besonders »mit den Armen und Bedrängten aller Art« (GS 1), wie es das Zweite Vatikanum sagt. Als Jesus vom kommenden Weltgericht erzählt, zielt er auf diese Glaubenspraxis ab. »Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder und Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan. […] Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir nicht getan.« (Mt 25,40.45) Entscheidend ist die Praxis, die Gottes- und Nächstenliebe innerlich verbindet. Kurz vor seinem Tod sagt Jesus nochmals pointiert zu seinen Jüngerinnen und Jüngern: »Ihr wisst, dass die, die als Herrscher gelten, ihre Völker unterdrücken und die Mächtigen ihre Macht über die Menschen missbrauchen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll der Sklave aller sein. Denn auch der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösegeld für viele.« (Mk 10,42–45) Man kann sich vorstellen, dass diese Positionierung bei Jesu Gegnern wie in den eigenen Reihen auf Widerstand stößt.
Opfer menschlicher Gewalt – das Kreuz als schlimmstmögliche Folge der Inkarnation
Wer den Finger in die Wunde von Armut und Unrecht legt, wer nicht nur oberflächlich schaut, sondern nach Ursachen und Verstärkern fragt, geht das Risiko ein, selbst verwundet zu werden. Ungerechtigkeiten zu benennen und Alternativen aufzuzeigen ist besonders gefährlich für einen Menschen, der keine durchschlagenden Machtmittel zur Verfügung hat. Das ist bei Jesus der
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