Weihnachten mit Maigret
ja. Wenn er krank ist, besucht er mich nicht.«
»Und dein Papa Jean?«
»Er ist unterwegs, aber er wird zu Neujahr nach Hause kommen. Vielleicht wird er dann nach Paris versetzt und muss nicht mehr wegfahren. Er wäre froh darüber, und ich auch.«
»Kommen dich viele Freunde besuchen, seitdem du im Bett liegen musst?«
»Welche Freunde? Die Mädchen aus der Schule wissen nicht, wo ich wohne. Und wenn sie es wissen, dürfen sie nicht ganz alleine kommen.«
»Und die Freunde von Mama Loraine oder von deinem Papa?«
»Es kommt nie jemand.«
»Nie? Bist du sicher?«
»Nur der Gasmann oder der vom Elektrizitätswerk. Ich höre sie, weil die Tür fast immer offensteht. Ich kenne sie. Nur zweimal ist jemand anderes gekommen.«
»Wie lange ist das her?«
»Das erste Mal war es am Tag nach meinem Unfall. Ich erinnere mich daran, weil der Arzt gerade gegangen war.«
»Wer war es?«
»Ich habe ihn nicht gesehen. Ich habe gehört, wie er an die andere Tür klopfte und etwas sagte. Mama Loraine hat dann sofort die Tür zu meinem Zimmer geschlossen. Sie haben eine ganze Weile leise miteinander gesprochen. Nachher hat sie mir erzählt, dass er sie mit einer Versicherungssache gelangweilt hat. Ich weiß nicht, worum es ging.«
»Und ist er wiedergekommen?«
»Vor fünf oder sechs Tagen. Diesmal kam er abends, als in meinem Zimmer das Licht schon ausgemacht worden war. Ich schlief noch nicht. Ich hörte, wie es klopfte und wie sie leise miteinander sprachen, wie beim ersten Mal. Ich wusste genau, dass es nicht Mademoiselle Doncœur war, die abends manchmal kommt, um Mama Loraine Gesellschaft zu leisten. Später hatte ich das Gefühl, dass sie miteinander stritten. Ich hatte Angst und rief. Mama Loraine kam, um mir zu sagen, dass es wieder wegen dieser Versicherung sei und dass ich schlafen solle.«
»Ist er lange geblieben?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich bin dann eingeschlafen.«
»Du hast ihn beide Male nicht gesehen?«
»Nein. Aber ich würde seine Stimme wiedererkennen.«
»Auch dann, wenn er leise spricht?«
»Ja. Eben weil er immer leise spricht, was sich so anhört wie eine dicke Hummel. Ich kann die Puppe behalten, nicht wahr? Mama Loraine hat mir zwei Schachteln Bonbons und Nähzeug gekauft. Sie hat mir auch eine Puppe geschenkt, aber eine viel kleinere als die vom Weihnachtsmann, weil sie nicht so reich ist. Sie hat sie mir heute Morgen gezeigt, bevor sie wegging, hat sie dann aber wieder in die Schachtel zurückgetan. Ich brauche sie nicht mehr, weil ich ja diese hier habe. Das Geschäft wird sie zurücknehmen.«
Die Wohnung war überheizt, die Zimmer eng und stickig, aber trotzdem überkam Maigret ein Gefühl der Kälte. Das Haus sah von außen wie das aus, in dem er wohnte. Warum erschien ihm die Welt hier drin kleiner, schäbiger?
Er bückte sich zum Fußboden hinunter, zu der Stelle, an der die beiden Dielen hochgehoben worden waren. Er sah nur einen staubigen, leicht feuchten Hohlraum, wie er sich unter allen Dielen befindet. Einige Kratzer im Holz wiesen darauf hin, dass man einen Meißel oder etwas Ähnliches benutzt hatte.
Er untersuchte die Tür und fand dort ebenfalls Spuren. Es war eine stümperhafte Arbeit, die außerdem leicht zu machen gewesen war.
»Wurde der Weihnachtsmann nicht böse, als er sah, dass du ihm zuschautest?« »Nein, Monsieur. Er war damit beschäftigt, ein Loch in den Boden zu machen, um den kleinen Jungen aus der zweiten Etage zu besuchen.«
»Hat er nichts zu dir gesagt?«
»Ich glaube, er hat gelächelt. Ich bin mir nicht sicher, wegen seines Bartes. Es war nicht sehr hell. Aber ich weiß genau, dass er einen Finger auf den Mund gelegt hat, damit ich nicht rief, weil die Großen ihm nicht begegnen dürfen. Haben Sie ihn schon einmal getroffen?«
»Das ist schon lange her.«
»Als Sie noch klein waren?«
Er hörte Schritte im Flur. Die Tür wurde geöffnet. Es war Madame Martin, im grauen Kostüm, ein Einkaufsnetz in der Hand und einen kleinen beigen Hut auf dem Kopf. Ihr war offensichtlich kalt. Die Haut ihres Gesichtes war gespannt und sehr weiß; aber sie hatte sich wohl beeilt und war schnell die Treppe heraufgekommen, denn auf ihren Wangen waren zwei kleine rote Flecken zu sehen, und ihr Atem ging kurz.
Sie lächelte nicht und fragte Maigret:
»War sie artig?«
Dann, indem sie ihre Jacke auszog:
»Entschuldigen Sie, dass ich Sie habe warten lassen. Ich musste noch einmal Weggehen, um verschiedene Dinge einzukaufen. Später wären die Läden
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