Weihnachten mit Maigret
sanften Licht einer Nachttischlampe den Vormittag im Bett zu verbringen und auf gut Glück die eine oder andere ihrer Freundinnen anzurufen.
»Wie, es ist zehn Uhr? Wie ist draußen das Wetter? Es regnet? Waren Sie schon draußen? Haben Sie eingekauft?«
So versuchte sie, am Telefon etwas vom bewegten Treiben draußen zu erfahren, während sie sich immer behaglicher in ihr leicht verschwitztes Bett kuschelte. »Sind Sie’s, Chef?«
Maigret hatte ebenfalls Lust, Lucas zu fragen, wer mit ihm zusammen Dienst machte, was sie so trieben, und wie es heute Morgen im Haus aussah.
»Gibt’s etwas Neues? Viel Arbeit?«
»Fast nichts. Das Übliche...«
»Könntest du einige Erkundigungen für mich einziehen? Ich glaube, du kannst das telefonisch erledigen. Besorge dir zunächst die Liste aller Häftlinge, die in den letzten zwei Monaten, oder besser in den letzten drei Monaten, freigelassen wurden.«
»Aus welchem Gefängnis?«
»Aus sämtlichen Gefängnissen. Kümmere dich nur um diejenigen, die eine Strafe von mindestens fünf Jahren verbüßt haben. Versuche herauszubekommen, ob einer darunter ist, der irgendwann einmal am Boulevard Richard-Lenoir gewohnt hat. Hast du verstanden?«
»Ich notiere.«
Lucas war bestimmt verblüfft, aber er ließ sich nichts anmerken.
»Noch etwas: Wir müssen einen gewissen Paul Martin ausfindig machen, einen Alkoholiker ohne festen Wohnsitz, der sich häufig im Viertel der Bastille herumtreibt. Nicht festnehmen oder behelligen! Finde heraus, wo er die Weihnachtsnacht verbracht hat. Die Kommissariate werden dir dabei helfen können.«
Im Gegensatz zu besagter Freundin war es ihm eigentlich gar nicht recht, zu Hause im Pyjama in seinem Sessel zu sitzen, unrasiert, ein vertrautes und unbewegliches Bild mit rauchenden Schornsteinen vor Augen, während der brave Lucas am anderen Ende der Leitung seit sechs Uhr morgens im Dienst war und seine Butterbrote wohl bereits ausgewickelt hatte.
»Das ist noch nicht alles, alter Freund. Ruf bitte Bergerac an. Im >Hotel de Bordeaux< wohnt ein Geschäftsreisender namens Jean Martin. Nein! Jean! Das ist nicht derselbe. Es ist der Bruder. Ich möchte gerne wissen, ob er im Lauf des gestrigen Tages oder während der Nacht einen Anruf aus Paris oder ein Telegramm bekommen hat. Und lass selbstverständlich auch noch nachforschen, wo er den Abend verbracht hat. Ich glaube, das ist alles.«
»Soll ich zurückrufen?«
»Nicht sofort. Ich muss noch weg. Ich werde dich wieder anrufen.«
»Ist in Ihrem Viertel etwas passiert?«
»Ich weiß es noch nicht. Vielleicht.«
Madame Maigret kam ins Badezimmer, um mit ihm zu sprechen, während er seine Toilette beendete. Angesichts der rauchenden Schornsteine zog er sich keinen Mantel über. Denn wenn man die Schornsteine mit dem aufsteigenden Rauch betrachtete, der sich langsam im Himmel verlor, stellte man sich hinter den Fenstern überheizte Wohnräume vor. Er würde einige Zeit in engen Wohnungen verbringen müssen, wo man ihn nicht dazu auffordern würde, es sich bequem zu machen. Daher zog er es vor, lediglich seinen Hut aufzusetzen und so den Boulevard zu überqueren.
Wie das Haus, in dem er wohnte, war auch das Haus gegenüber alt, aber sauber und ein wenig düster, vor allem an diesem grauen Dezembermorgen. Er vermied es, bei der Concierge stehenzubleiben, die ihm etwas unwillig nachsah. Während er die Treppe hinaufging, wurden hinter ihm einige Türen geräuschlos einen Spalt geöffnet, und er hörte gedämpfte Schritte und Flüstern.
Auf dem Flur in der dritten Etage erwartete ihn Mademoiselle Doncœur, die ihm vom Fenster aus aufgelauert haben musste; sie war einerseits verschüchtert, andererseits jedoch aufgeregt, als handele es sich um ein Rendezvous zweier Verliebter.
»Kommen Sie, Monsieur Maigret. Sie ist vor einer Weile weggegangen.«
Er runzelte die Stirn, was sie sofort bemerkte.
»Ich sagte ihr, dass das nicht richtig sei, weil Sie jeden Moment kommen würden, und dass sie besser zu Hause bleiben solle. Sie antwortete, dass sie gestern nicht eingekauft und deshalb nichts mehr im Hause habe und dass später alle Geschäfte geschlossen seien. Kommen Sie herein!«
Sie stand vor der hinteren Tür, die in ein ziemlich kleines und recht dunkles Esszimmer führte, in dem jedoch Sauberkeit und Ordnung herrschte.
»Ich pass auf die Kleine auf, während sie weg ist. Colette freut sich darauf, Sie zu sehen. Ich hab ihr nämlich von Ihnen erzählt. Sie hat nur Angst, dass Sie ihr die Puppe
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