Weihnachten mit Mama
gezollt wird. Dieses Zimmer am Ende des langen Flurs ist das Reich meines Vaters, und selbst Mama wagt keinen Schritt über die Schwelle. Ich habe sie nie in diesem Zimmer aufräumen, putzen, etwas richten oder hinstellen sehen. Sie klopft sogar an, bleibt in der Tür stehen, wenn sie das Wort an ihren Gemahl richtet. Das Bureau ist ein Sanktuarium, ein Flucht- und Rückzugsort, an dem sich mein Vater vor den Widrigkeiten des Lebens in Sicherheit bringt.
Auch ich hatte vorsichtig an die Tür geklopft. Es schien mir an der Zeit, ein paar Takte mit Papa zu reden, nachdem er mich so dringlich hergebeten hatte. Ich hörte sein sonores »Herein!« und öffnete die Tür. Er saß in seinem Ohrensessel, neben dem eine Bankerlampe mit grünem Schirm, wie man sie in den Lesesälen amerikanischer Universitätsbibliotheken findet, ein genau abgezirkeltes Licht spendete.
Papa winkte mich herein, also schloss ich vorsichtig hinter mir die Tür und setzte mich ihm gegenüber in den zweiten Sessel.
»Lass mich noch eben den Artikel zu Ende lesen. Bin gleich fertig«, murmelte er.
»Aber ja, lies nur.«
Das gab mir Gelegenheit, wieder einmal den Blick durch dieses Refugium schweifen zu lassen. Ich war längere Zeit nicht mehr hier gewesen, sicherlich ein paar Jahre, doch es schien mir, dass sich nicht das Geringste verändert hatte. Dieser große Raum hatte vermutlich vor ein paar Dezennien seine definitive Form und Ausstattung gefunden, und Papa empfand anscheinend nicht die geringste Veranlassung, hier irgendetwas zu ändern. Wozu auch und für wen? Schließlich wird das Bureau nur von ihm benutzt, wenn es auch ganz und gar nichts von einem Büro hat. Eher hat man den Eindruck, sich auf einer Zeitreise in die Wende vom neunzehnten zum zwanzigsten Jahrhundert zu befinden, denn nichts, wirklich nichts erinnert hier daran, dass sein Bewohner im zweiten Jahrzehnt des einundzwanzigsten Jahrhunderts lebt.
Hohe Bücherregale aus dunklem Holz bedecken die Wände, Schränke, hinter deren Glas antiquarische Schätze aus Silber und Porzellan funkeln. Der Friedhof der verlorenen Dinge , ging mir durch den Kopf, in Anlehnung an Carlos Ruiz Záfons großartigen Roman Der Schatten des Windes , mein Lieblingsbuch. Ein großer englischer Sekretär, über und über bedeckt mit Papieren. Beistelltische, vollgestellt mit Bilderrahmen aus Silber und Wurzelholz, Zigarrenkisten, Aschenbechern, Pfeifen, Büsten und Plastiken – vornehmlich halb oder ganz entkleideter griechischer Göttinnen – und schließlich einer Fülle von Memorabilien, deren Sinn und Bedeutung allein mein Vater kennt. Der Bibliothekscharakter des Bureaus lässt an den Wänden nur kleine Flächen frei, die mit Bildern vollgehängt sind. Weitere Bilder stehen auf dem Boden oder sind einfach vor den Bücherregalen aufgehängt worden.
Mitten in diesem unglaublich vollgerappelten Sammelsurium saß mein Vater, als sei er der Besitzer eines Antiquitätengeschäfts und warte auf noble Kundschaft. Schließlich legte er die Zeitung beiseite, nahm die Lesebrille ab und blickte mich aufmunternd an.
»Einen Cognac?«, fragte er.
Welche Ehre! Noch nie hatte mein Vater mir hier etwas Hochprozentiges angeboten, und da ich sicher war, dass der Cognac exquisit sein würde, nickte ich.
Nachdem er mir den generös gefüllten Cognacschwenker gereicht hatte, zündete er sich eine Zigarre an, als stehe hier ein gemütliches Gespräch unter guten Freunden an. Ich entspannte mich und rückte mich wohlig in dem Sessel zurecht.
»Wie war’s auf dem Christkindlmarkt?«, fragte er und erlaubte sich ein maliziöses Lächeln. »Seid ihr zu einer akzeptablen Bratwurst vorgedrungen, oder musstet ihr mit einem minderwertigen Erzeugnis der heimischen Fleischindustrie vorliebnehmen?«
»Du kennst Mama«, sagte ich nur. »Die Wurst war perfekt und ließ nichts zu wünschen übrig.«
Papa nickte und zog energisch an der Zigarre, als müsse er sich Energie zuführen für den weiteren Verlauf des Gesprächs. »Ich verstehe. Und … war’s erträglich?«
»Nachdem sie einen halben Monatsumsatz unseres Verlages beim Krippenmann gelassen hatte … ja, doch.«
Er lächelte erneut. Ich erzählte ihm von den aktuellen Zuwächsen des Krippeninventars und dass wir jetzt das Zeitalter der Elektrifizierung erreicht hätten.
»Du meine Güte!« Er stöhnte auf. »Wo soll das noch hinführen? Mir ist völlig schleierhaft, wie sie aus dem vollgemüllten Salon noch ein respektables Zimmer zum Feiern schaffen
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