Weihnachten mit Mama
leb du erst mal im Allgäu! In der Provinz! Bei diesen Bergvölkern! Die außer Käse und Kaminwurzen nichts Nennenswertes hervorbringen. Wo Kommissar Kluftinger sein Unwesen treibt. Da kannst du auf deinem Piano gar nicht gegen anklimpern. Da ist Kultur das, was der Metzger hätte, wenn er Chirurg wäre, wenn du verstehst, was ich meine. Und wenn Theater, dann Volkstheater. Ein einziges Heimatmuseum! Das ist so dumpf, du merkst gar nicht, wie der Restintellekt aus deinem Hirn gesaugt wird. Da leben wir in unserer bescheidenen Hütte und ernähren uns von Kässpatzen. Und Karin häkelt Geschenke für den Kirchweih-Basar. Hunderte von Eierwärmern und Babysöckchen, kannst du dir das vorstellen? Das musst du erst mal bringen. Oder ist hier jemand in dieser Runde mit einem tragischeren Schicksal?«
Er lachte dröhnend. Ein Lachen, in das alle einstimmten, bis auf Charlotte, deren Lippen einen Strich bildeten, so scharf wie ein Tranchiermesser.
»Hoho!«, mischte sich mein Bruder ein. »Da kann ich aber locker mithalten! Meinst du, im Chiemgau scheint jeden Tag die Sonne? Da muss ich mir mein Geld mit der Trunksucht meiner Mitbürger verdienen. Meine Frau Tina hier …«, er umarmte seine Liebste, die ihn angrinste, »… veranstaltet Matineen für Waldschrate, und zu den besten Filmen kommen fünf Besucher in ihr entzückendes Lichtspielhäuschen. Nicht wahr, meine kleine Filmvorführerin?«
»Wie recht du hast, mein kleines Fässchen!«
»Das ist doch Jammern auf hohem Niveau«, ließ sich Laura vernehmen. »Und ich? Will denn niemand mein Leid hören?«
»Leid?«, kreischte Charlotte. »Wo hast du denn ein Leid? Du bist doch so was von privilegiert … ich fass es nicht!«
»Nun, früher war ich wirklich mal hübsch. Aber bald schon verlieren meine Arme ihre Spannkraft, und mein ›Holz vor der Hütte‹, wie es hier so schön heißt, nimmt allmählich die Fahrt zu Tal auf. In zwei, drei Jahren bin ich abgeschrieben, dann kann ich Pullover für Waschbär modeln, bevor ich zu einer bemitleidenswerten Frau mittleren Alters werde, deren beste Jahre definitiv hinter ihr liegen. Ich lebe seit dem achtzehnten Lebensjahr auf Diät, was im Klartext bedeutet, dass ich seit sechs Jahren Hunger leide. Und wenn ich Hunger sage, dann meine ich Hunger ! Ich war mit einer ganzen Reihe nicht besonders netter Männer zusammen … und einer davon hat mich geschlagen …«
Alles stöhnte auf.
»Na ja, es war ein Klaps … aber ein heftiger! Ich hab auch zurückgeschlagen. Kann ich mir schließlich nicht bieten lassen, mangelnden Respekt.«
»Da hast du recht!«, rief Tina. »Wehr dich!«
»Hau drauf!«, rief Oma.
» Mutter!« , rief Mama.
»Ach was, das ist doch gar nichts, Schwesterlein«, sagte Dorle. »Schau mich an … beruflich ausgesprochen erfolglos. Ich reiß für zweihundert Euro pro Woche in einem Buchladen, in dem vor allem Romane mit Titeln wie Tante Inge haut ab und Winterkartoffelknödel verkauft werden, meinen Job runter. Das sagt ja wohl alles! Ich bekomme mit meinen Federn auf dem Kopf nicht mal eine richtige Frisur hin. Hatte jahrelang diesen Hang zu fiesen Typen, von dem mich erst mein Max kuriert hat, was ein durchaus schmerzhafter Prozess war. Ich muss Kleider aus dem Secondhandshop auftragen, weil ich mir nichts Modisches leisten kann. Und wenn mir meine mildtätige Schwester nicht ab und zu eines der Höschen zustecken würde, mit denen sie bei ihren Shootings zugeworfen wird, dann würde mein süßer kleiner Hintern erfrieren.«
»O je!«, kam es von allen Seiten. »Die Arme!«
»Also, jetzt muss ich aber auch mal was sagen«, sekundierte Max und setzte zu seiner ersten Wortmeldung in diesem Kreis an, was ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit aller sicherte. »Der einzige Lichtblick in meinem Leben ist Dorle.« Applaus. »Vorher war nämlich bei mir tote Hose. Das dürft ihr wörtlich nehmen. Ich gehörte gesellschaftlich zu dem erbärmlichen Haufen von Versagern, die nichts auf die Reihe bekommen. Ich hab einen Job, von dem ich nichts verstehe, bin noch nie befördert worden, und meine letzte Freundin – vor der Liebsten hier neben mir – hatte ich in der Pubertät. Früher war ich mal ganz ansehnlich, aber inzwischen habe ich mehr Falten als diese kunstvollen Servietten hier. Aber, was soll ich sagen? C’est la vie . Dorle war meine Rettung!«
Nochmaliger Applaus und Lachen waren ihm sicher. Bei » C’est la vie « hatte Julie aufgemerkt. Ich zupfte sie am Ärmel und versuchte, sie am Sprechen
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