Weihnachten mit Mama
zusammen und sah mich nachdenklich an. Ihm konnte man nichts vormachen, nie. Er kannte Bruno, er kannte Robert, er kannte mich. Er konnte eins und eins zusammenzählen. Und er durchschaute mit untrüglichem Gespür die kleine Beschwichtigungsstrategie, die seine Söhne sich zurechtgelegt hatten. Mir machst du nichts vor, Johannes, sagte sein Blick. Aber ich hätte es genauso gemacht.
Nach nur zwanzig Minuten kehrte Robert zurück in den Salon. Er schien mir etwas außer Atem zu sein. Doch seine sehr diskrete Geste, unsichtbar für alle anderen, beruhigte mich und ließ meinen Blutdruck in gemäßigte Bereiche zurückkehren. Er streckte mir den hochgereckten Daumen hin: Alles okay! Ich atmete erleichtert aus.
Na, also. Geht doch. Dieser entfesselte Köter würde doch nicht unser friedliches Weihnachtsfest sprengen können!
19
Ich hatte auch mein Päckchen zu tragen
D as exquisite Weihnachtsmahl ging seinem Ende entgegen. Francis trug das Hauptgeschirr ab, goss Wein nach, bei manchem von uns schon zum vierten oder fünften Mal. Huijuijui … das würde noch was werden! Die Konversation plätscherte jetzt dahin wie ein Brunnen im Park von Nymphenburg. Streitthemen wurden vermieden, Kriegsbeile vergraben, Frontlinien begradigt. Die Diskussion war längst über Bunga-Bunga-Präsidenten hinweggegangen, hatte Beamtenvorrechte gestreift und für ein bisschen Polemik beim Thema Renteneintrittsalter gesorgt. Über den neuen Erzbischof von München waren alle einer Meinung, über den Papst jedoch drohten alle in Streit zu geraten, doch Papa, der große Kommunikator, bog ihn ab. Er wusste, wie gefährlich gewisse Gesprächsthemen sein konnten. Überall lagen Tretminen, hielten sich Sprengsätze verborgen. Parteipolitik war Gift für die Familienkonversation, das wussten alle, wie auch Religion, Stadtarchitektur, Wirtschaftskrise, Steuerpolitik, Preisentwicklung, Kindererziehung. Über nichts konnte sich diese Familie so ereifern wie über Frisuren, Wohnungseinrichtungen, überhaupt Geschmacksfragen. Wie darüber, dass X sich wie ein Idiot eingerichtet habe und wofür Y sich eigentlich halte mit ihrem Marktex -Wahn.
Konsum war ebenfalls vermintes Gelände, doch immer wieder lenkte Charlotte, die sich für verarmt hielt – was natürlich Unfug war –, das Gespräch auf das, was andere sich scheinbar leisten konnten, sie aber angeblich nicht. Was andere sich angeschafft hätten, woran sie nicht einmal im Traum denken könnte. In jungen Jahren hatte sie als pianistisches Wunderkind gegolten, und ihre Eltern hatten einiges aufgewendet, um das Talent ihrer ältesten Tochter zu fördern. Nur um am Ende herauszufinden, dass es für die große Karriere doch nicht reichte. Charlotte hingegen hielt sich für zu talentiert, um fortan für den Rest ihres Lebens ein bisschen amateurhaft auf dem Piano herumzuklimpern und sich ansonsten einem »seriösen Beruf« zuzuwenden. Sie begann ein Studium am Konservatorium, sie nahm Unterricht bei einer Koryphäe, sie übte Arpeggien mit einer Verbissenheit, die allen widerwillige Bewunderung abnötigte. Allein, ihre Anstrengungen waren nicht von Erfolg gekrönt.
Sah Charlotte ein, dass sie zwar eminent musikalisch war, dass es für Auftritte im Münchner Gasteig, in der Zürcher Tonhalle, im Wiener Musikverein und in der Pariser SallePleyel jedoch nicht reichte? Sie sah es nicht ein. Von Jugend an haderte sie mit ihrem Schicksal. Haderte mit den Männern, von denen sie hoffte, dass sie sich ihr zu Füßen werfen würden, was vor allem die nicht taten, auf die sie ein Auge geworfen hatte. Haderte mit ihrem Beruf, als es doch nur für die Profession der Musiklehrerin reichte, immerhin am Gymnasium. Seit ihrer Pensionierung gibt sie Klavierstunden, sie kommt einfach nicht los von diesem Instrument.
Und obwohl sie als Beamtin im Ruhestand bestens versorgt ist, kultiviert sie ihren Status als verarmte und verkannte Künstlerin. Sie ist eine Bescheidenheitsangeberin par excellence. Klagt irgendjemand über irgendetwas – Charlotte geht es immer schlechter. Leidet irgendjemand an irgendeiner Krankheit – Charlottes Malaisen sind auch nicht zu verachten. Schließlich ist sie Künstlerin, sensibel, nervös, angegriffen, in stets prekärer Verfassung. Lieblingsleiden: Migräne. Lieblingssatz: »Was hab ich schon vom Leben!«
Hätte man Charlotte eine Farbe zuordnen sollen, wäre es Gelb: Sie war gelb vor Neid. Neidisch auf Karin, ihre sorglose jüngere Schwester, die sich keinen Begriff davon
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