Weihnachten mit Mama
machte, was wahre Kunst überhaupt bedeutete. Mit welchen Titanen Charlotte da rang. Neidisch auf meine Mutter, die sich einen Mann geangelt hatte, der ihr als Verleger ein anscheinend luxuriöses Leben ermöglichte: »Du hast doch nie richtig gearbeitet!«, rief Charlotte ein ums andere Mal aus. »Dir ist doch immer alles in den Schoß gefallen!« Neidisch auf ihre eigene Mutter, Annerose, die patent war und nicht neurotisch, die mit beiden Beinen mitten im Leben stand und sich nicht in irgendwelchen Träumereien verlor. Neidisch auf alle Welt. Ein Neid, den sie fast zu genießen schien.
Wann immer also das Thema Konsum gestreift wurde und Charlotte zu einer ihrer Tiraden ansetzte, schrillten bei meinem Vater alle Alarmglocken. Er wusste, wohin das führte, ja, zwangsläufig führen musste: Irgendwann würde seiner Frau der Kragen platzen und sie würde Charlotte in die Schranken weisen. Es war nur eine Frage der Zeit. Diese Familienkonstellation war so ehern, dass es daraus kein Entrinnen gab. Jahrzehntelang trainierte Ressentiments konnten sich in einem einzigen unbedachten Augenblick entladen. Was dann geschah, würde nicht aufzuhalten sein, von nichts und niemandem.
Daher spielte mein Vater einen Trumpf aus, gegen den Charlotte letztlich machtlos war: Er war ihr gegenüber von einer Liebenswürdigkeit und einem Charme, die seine Schwägerin regelmäßig entwaffneten. Sie kam nicht gegen ihn an, wenn er sich vermeintlich mit ihr verbündete, indem er einfach alles nur ganz ernst nahm, was sie von sich gab. Sie konnte ihm nicht böse sein, ihn nicht in ihre beißende Kritik einschließen. Er bot ihr keinerlei Angriffsfläche, sondern setzte immer ganz auf Verständnis und Deeskalation. Ganz im Gegensatz zu meiner Mutter, die bekanntlich über jedes Stöckchen springt, das man ihr hinhält, und die Charlottes falschzüngiges Gerede, wie benachteiligt sie vom Schicksal sei, einfach nicht erträgt. Und insgeheim immer vermutet, Charlotte sei heimlich in Friedrich verliebt, das sei nie anders gewesen. So weit zu unterstellen, dass ihr Mann die unterdrückten leidenschaftlichen Gefühle ihrer Schwester erwidert, geht sie allerdings nicht. Wenn sie von etwas felsenfest überzeugt ist, dann von der Liebe ihres Mannes zu ihr. Der ihr zudem stets den Wind aus den Segeln nimmt mit seinem ewigen: »Ach, ich … ich bin doch schon jenseits von Gut und Böse.«
Vor diesem Hintergrund war die sich nun entspinnende Konversation für mich von subtiler Komik und von erheblichem Unterhaltungswert. Man könnte sie den »Bescheidenheitswettbewerb« nennen. Wie auf ein geheimes Kommando, als hätten alle sich heimlich abgesprochen, suchte plötzlich einer den anderen zu überbieten und zu übertrumpfen in puncto Bescheidenheit und persönlicher Tragik.
Angeführt wurde dieses skurrile Lamento natürlich von Charlotte. Sie ließ sich des Längeren und Breiteren über all die Malaisen und Missgeschicke ihres Lebens aus, in so beängstigender Ausführlichkeit und in so klagendem Ton, dass alle am Tisch eine profunde Langeweile ergriff, die Gesichter immer leerer und die Blicke immer stumpfer wurden. Es war nicht zum Aushalten, mit anzuhören, wie sehr das Leben Charlotte benachteiligt hatte, dass sie keinen Mann gefunden hatte, der ihr adäquat gewesen wäre – »Es hat mir einfach niemand das Wasser reichen können!« –, dass die böse Welt da draußen sie einfach nicht verstand und ihr Bemühen um künstlerischen Ausdruck nicht zu würdigen wusste. In alledem war aber kein richtiger Schmerz zu spüren, sondern nur Selbstgerechtigkeit.
Ich beobachtete meine Tante genau, wie sie mit ihrer Kette spielte, wie sie an ihrem Kleid herumfummelte, wie sie versuchte, jeden am Tisch mit barmenden und indignierten Blicken niederzuringen. Sie erwies sich einmal mehr als eine wahre Meisterin der Manipulation, im Buhlen um Aufmerksamkeit und Mitgefühl ebenso wie in der Kunst, die Schuld immer nur bei anderen zu suchen. Bis es selbst ihrer gutmütigen, stets freundlichen und auf Harmonie bedachten Schwester Karin zu viel wurde.
Sie schnitt – ein Wunder! – Charlotte einfach das Wort ab, indem sie sagte: »Nun lass es mal gut sein, Schwesterchen. Wenn hier jemand Mitleid verdient hat, dann wir im Allgäu, nicht wahr, Bernhard?« Sie zwinkerte ihrem Mann zu, der die Steilvorlage sogleich nutzte und zu einer – natürlich ironischen – Suada ansetzte, die so übertrieben war, dass sie Charlottes Verärgerung geradezu herausforderte.
»Ja,
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