Weihnachten mit Mama
wie das Schloss bei einem alten Gartentor. Es knirschte zwar, funktionierte aber. Einigermaßen fassungslos sah ich, wie Papas kleine Strategie aufging. Elisabeth und Charlotte, die beiden unartigen Mädchen, gaben sich tatsächlich die Hand. Und gönnten sich gegenseitig sogar ein verschämtes Lächeln, als habe man sich gegenseitig bei etwas ertappt, von dem die Erwachsenen nie und nimmer erfahren durften. Unter Papas Schirmherrschaft schien der Weihnachtsfriede unzerstörbar zu sein.
Na ja, um ehrlich zu sein … nicht so ganz. Er bekam noch ein paar hübsche Kratzer ab, den im Siebenschön Verlag so beliebten used look .
20
Nun stellt euch doch nicht so an!
D ass es an diesem harmonischen Abend im Kreis der Familie um ein Haar sogar beinahe zu Handgreiflichkeiten gekommen wäre, ist niemand anderem als meiner Tante Karin zu verdanken. Ja, kaum zu glauben, aber so war es. Denn es gibt einen Zug an dieser liebenswerten Person, der einem gründlich auf die Nerven gehen kann: die unbändige Lust an der Zwangsbeglückung.
Was das ist?
Zwangsbeglückerinnen drängen andere Menschen immer zu Dingen, die sie selbst für richtig, wohltuend, unerlässlich, glückversprechend, heilsam und was weiß ich noch halten. Sie nötigen dazu, immer weiter zu essen, sich mehrmals zu nehmen, weil es ja so gut schmeckt. Oder das Gegenteil: Sie ziehen andere in den Diätwahn, dem sie sich selbst ausgeliefert haben – »Das tut dir doch auch gut!« Sie verpflichten zum Spazierengehen, weil die Sonne scheint und man das nutzen muss. Und weil Bewegung nun mal gesund ist, wer wollte das bestreiten. Und weil ein paar Pfund Gewicht weniger Physis wie Psyche erleichtern. Da gibt es keinen Pardon. Ausflüchte werden streng geahndet, Entschuldigungen nicht gelten gelassen. Spürt die Zwangsbeglückerin Widerstand, lässt sie in ihren Anstrengungen keineswegs nach, sondern verdoppelt sie.
Auch meine Mutter hat durchaus Tendenzen zur Zwangsbeglückung, manchmal sogar zum Geschmacksterrorismus, wird darin jedoch bei Weitem von ihrer Schwester übertroffen. Karin meint es immer nur gut. Das ist ihr Nonplusultra-Satz: »Ich meine es ja nur gut.« Was lässt sich gegen Gutmeinen ernsthaft schon einwenden? Da ist man stets in der schlechteren Position. Argumentieren lässt sich auch nicht, denn die guten Argumente hat die Zwangsbeglückerin ja immer auf ihrer Seite. So klingt alles, was man gegen ihre Vorschläge und Zumutungen vorbringen mag, von vornherein schal, vorgeschoben und konstruiert. Zwangsbeglückung ist das Gegenteil von »leben und leben lassen«.
Bei Karin ist das natürlich gut getarnt. Sie verliert nie ihre Freundlichkeit, sie keift nicht herum, sie sitzt alle Widerstände warm lächelnd aus, bis sie ganz in sich zusammenfallen, der drangsalierte Opponent keine Energie mehr hat und kapituliert. Sobald sie beim anderen die ersten Anzeichen der Resignation erkennt, legt sie ihm den Arm um die Schulter und redet ihm gut zu, die Liebenswürdigkeit in Person. So unprätentiös mein liebes Tantchen ist, so herzlich und so zugewandt – da ist ein eiserner Wille, der sich hinter einer grundgütigen Miene verbirgt.
Diesmal hatte sich Karin ein besonders herausforderndes Zielobjekt ausgeguckt: ihre Schwester Charlotte. Und man kann nicht einmal sagen, dass sie es bewusst gemacht hätte – sie kann einfach nicht anders. Als Francis die Dessertvariationen auftrug, gab es ein großes »Oh!« und »Ah!« Viele kleine Schalen und Schüsseln wurden aufgebaut, die mit allerlei süßen Köstlichkeiten gefüllt waren. Jeder konnte sich nach Herzenslust bedienen. Und Karin, das Naschkätzchen, war in ihrem Element. Im siebten Himmel, sozusagen.
Und in diesem Himmel fühlte sie sich wohl allein. Denn ihre Tischnachbarin Charlotte mochte bei Weitem nicht so beherzt zugreifen wie sie selbst. Die verzierte ihren Teller nämlich mit einer homöopathischen Dosis blassen Sorbets, ließ aber alle Puddings, alle Mousses, alle Bayerisch Cremes und was es sonst noch an opulenter Patisserie gab, links liegen.
Karin, die nichts lieber tat, als zu probieren, hatte ihren Teller hingegen kulinarisch vollgeladen. Und sie hielt Charlotte einen Löffel Bayerisch Creme unter das feine Näschen, das sich prompt indigniert verzog.
»Probier das mal. Es ist fantastisch!«
»Nein, danke.«
»Das musst du kosten, sag ich dir. Hier … nimm doch mal.«
»Danke, Karin … ich mag keine Bayerisch Creme.«
»Aber diese hier ist ganz besonders. Glaub es
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