Weihnachtsgeschichten am Kamin 04
für die Großmutter nach draußen und verschwand im Auto.
Großvater hatte den Wagen gerade aus der Werkstatt geholt, und nun fuhren sie zum Gärtner Leihold, um, wie jedes Jahr, den Tannenbaum zu holen. Dort angekommen, genehmigte sich der Großvater erst einmal, an einem kleinen Unterstand, einen Glühwein. Tim stromerte unterdessen durch die dicht verschneiten Weihnachtstannen, die hier in einer kleinen Schonung beisammen standen. Und so fand er ihn; auf einer kleinen Lichtung — alle umstehenden Bäumchen hatten schon ihre Weihnachtsfamilie gefunden — stand ein kleines, fast schmächtiges, zartes Bäumchen, ganz allein. Der mußte es sein. Der Großvater fand ihn zwar «bischen lütt», aber er nahm ihn schließlich doch. Und als er dann zu Hause an seinem Platz stand, geheimnisvoll nach Wald und Weihnacht duftend, da liebten ihn alle.
Nun begann das Schmücken. Großmutter holte aus dem Keller die Kartons und Kistchen mit dem Weihnachtsschmuck, und Tim hängte seine dunkelblaue Lieblingskugel, in der sich alles so fein und klar spiegeln konnte, gleich unter die silberne Spitze, aber etwas versteckt hinter die dunklen Zweige.
Und so kam der Abend. Vater und Mutter, die noch bis in den späten Nachmittag hinein gearbeitet hatten, waren schließlich doch noch gekommen, man hatte gut gegessen, und die dunkel süße Stunde der Bescherung war da. Die Kerzen am kleinen Tannenbaum tauchten das ganze Zimmer in ein duftendes warmes Licht, und die Mutter nahm Tims rotglänzende Wangen in ihre müden, unendlich zarten Hände und gab ihm einen dicken Kuß. «Na denn», sagte der Großvater. Doch bevor Tim die erste Schleife eines Päckchens löste, glaubte er für einen Moment zu sehen, daß am Fenster Eisblumen schimmerten.
Monica Paulsen
Alle Jahre wieder...
Wie oft hat Großmutter uns die Geschichte später erzählt und dabei gelächelt, so als wolle sie Großvater nachträglich um Verzeihung bitten. Hätte sie es damals doch nur ein einziges Mal getan, Weihnachten hätte sicherlich nicht jedes Jahr wieder mit diesen Mißtönen begonnen.
Das Drama zeichnete sich immer schon ab, wenn Großvater mit großen und schweren Schritten auf seinen Kaninchenstall zusteuerte. Dort stand er, der Baum, schräg angelehnt und noch verschnürt. Aber das sollte sich gleich ändern! Großvater trug den Baum unter dem Arm in den Hof. Er zerschnitt das Band. Vorsichtig bog er die Zweige auseinander. Mehrmals stampfte er mit dem Stamm auf den hartgefrorenen Boden. Das war das Zeichen für Großmutters Auftritt. Sogleich erschien sie am Küchenfenster. Ihre Blicke verrieten nichts Gutes! Ob Großvater wußte, daß von nun an jeder seiner Handgriffe aufmerksam beobachtet wurde? Seine Ruhe und seine Unbekümmertheit ließen nichts erkennen. Seelenruhig schlug er mit dem Beil die Rinde vom unteren Stammende. Das etwas wackelige Holzkreuz wurde mit zwei, drei Schlägen wieder hergerichtet und der Baum eingepaßt. Großvater verschränkte die Arme über der Brust und steckte seine Pfeife an, ein sicheres Zeichen seiner Zufriedenheit. Ganz anders Großmutter! Ihr Kopf erschien mehrmals am Fenster. Sie hatte für alles nur ein Kopfschütteln übrig. Und dann die Sache mit den Zweigen! Schließlich war für Großvater ein Weihnachtsbaum nicht irgendein Tannenbaum. Großvater zog sein Brillenfutteral aus der Jacke. Mit seiner Nickelbrille musterte er den Baum von allen Seiten. Blick und Gesten ähnelten einem Modeschöpfer, der hier und da noch etwas an seinem Modell auszusetzen hat. Natürlich hatte er sofort die kahlen Stellen entdeckt. Behutsam schnitt er aus dem Inneren des Baumes einige Zweige heraus, spitzte sie mit dem Taschenmesser an und legte sie vor sich auf den Boden. Was Großmutter bis dahin gemacht hatte, weiß ich nicht. Auf jeden Fall öffnete sie genau in dem Augenblick ungeduldig das Fenster, als Großvater anfing, den kahlen Stamm mit einem Korkenzieher anzubohren. Und wie in jedem Jahr rief sie auch diesmal Großvater zu: «Aber Karl! Er ist nun einmal so gewachsen. Laß ihn doch wie er ist. Wenn er geschmückt ist, fällt es gar nicht mehr auf. Außerdem ist es gleich Mittag, und es gibt noch eine Menge zu tun!» Oben wurde das Fenster geräuschvoll zugeschlagen, in der Hoffnung, Großvater hätte alles gehört und würde den Baum ins Haus bringen. Unten wurden indes weiter liebevoll Zweige in die Bohrlöcher gesteckt. Wo sie nicht paßten, wurden sie wieder herausgezogen, gekürzt, neu angespitzt und eingepaßt.
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